Migration ist ein Akt der Rebellion
Für Alberto Acosta sind vor allem die imperialen Staaten für die weltweite Migration verantwortlich
Wieder sind mehr Menschen über das Mittelmeer in die Festung Europa gekommen, haben den gefährlichen Weg über das Wasser auf sich genommen. Viele jedoch ertrinken. Einer von sieben Menschen dieser Erde ist Migrant. 75 Prozent dieser sage und schreibe eine Milliarde Menschen migrieren innerhalb der Grenzen ihres Landes. 244 Millionen Personen sind internationale Migranten, 71 Millionen mehr als noch zu Beginn des Jahrtausends. Das sind Zahlen der Vereinten Nationen.
Der Mensch hat sich schon immer über den Globus bewegt. Trotzdem haben wir es heute mit einem anderen Prozess zu tun als früher. Die menschliche Mobilität und die aktuelle Krise der Menschheit und Natur sorgen längst für ein völlig neues Bild. Und vor allem: Die ungebremste Globalisierung des Kapitals bringt eine Reihe neuer Voraussetzungen für Migranten von heute. Die zunehmenden Beschränkungen der persönlichen Bewegungsfreiheit kontrastieren mit der großen Freiheit, die der Wirtschaft zugestanden wird - zuallererst den Finanzströmen, begünstigt durch Kommunikationsmittel wie Handys und Computern, die uns erlauben, mit jedem Ort des Planeten virtuell in Verbindung zu treten.
In diesem Szenario ist das alltägliche Dilemma von Ausbeutung und Ausgrenzung für einen Großteil der Menschheit harte Realität. Für Millionen von Familien erscheint es »die bessere Wahl«, im globalen Norden ausgebeutet zu werden als in ihrer Heimat zu bleiben. Oft sind sie in ihren Ländern mit sozialer Ausgrenzung konfrontiert. In anderen Fällen haben Kriege sie zerstört. Für tausende von Menschen ist Flucht die einzige Alternative. Die mächtigsten Staaten der Erde sind in vielen Fällen für die Migration von Menschen direkt verantwortlich. Somit haben wir es mit einem Bumerang-Effekt zu tun, wenn die Menschen genau in die Länder fliehen, die mit ihrer imperialen Lebensweise die Gesellschaften und Natur in den verarmten Ländern zerstören.
Wie immer tragen die ärmsten Bevölkerungsgruppen die schwere Last der Migration auf ihren Schultern. Die Lage könnte sich in der Zukunft noch verschlechtern: Durch die Folgen des Klimawandels ist nicht ausgeschlossen, dass eine Milliarde mehr Menschen bis 2050 zur Flucht gezwungen werden – es wird wieder die Ärmsten der Armen treffen. Verantwortlich für den Klimawandel sind die reichsten zehn Prozent der Welt, sie verursachen mehr als die Hälfte aller Klimagase. Die ärmsten 50 Prozent der Erde aber nur für zehn Prozent.
Der Anstieg der weltweiten Migration außerhalb der Landesgrenzen kann auf die Unmöglichkeit eines Lebens in Würde zurückgeführt werden. Migration ist auch ein Akt der Rebellion, ein Aufstand gegen die Hoffnungslosigkeit in vielen Teilen der Erde, gegen die »imperiale Lebensweise« des Nordens, gegen die Gewalt des Erdöl-Imperialismus in Irak und Syrien unter dem Deckmantel der Demokratie. Die gewaltsame Migration ist eine Handlung, die politische Antworten fordert.
Als Referenz für eine mögliche Antwort kann – wie schon bei den Rechten für die Natur – die Verfassungsgebende Versammlung von Montecristi in Ecuador dienen, bei der ich die Ehre hatte, sie 2007 bis 2008 als Präsident leiten zu dürfen. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte hat diese Versammlung die verfassungsmäßige Behandlung der menschlichen Mobilität behandelt: Migration, Einwanderung, Schutz, Asyl, Binnenvertreibung, Menschenhandel. Ecuador wurde als Land anerkannt, dass ein Ort des Ursprungs, Durchgangs, Ziels und der Rückkehr von Migranten ist, ohne den internationalen Kontext aus dem Blick zu verlieren.
In diesem Sinne wurden in der Verfassung von 2008 58 Artikel mit direktem Bezug zur menschlichen Mobilität verankert. Alle Menschen in Ecuador, ob Staatsbürger oder nicht, haben die gleichen Rechte, Pflichten und Möglichkeiten. Auch wenn den Nicht-Ecuatorianern eine Vielzahl politischer Rechte eingeräumt wurde, so haben wir es nicht geschafft, die absolute rechtliche Gleichheit aller Personen einzuführen. Konkret wird die Abschiebung ganzer Ausländergruppen verboten, jedem Einzelnen wird der Rechtsweg und ein faires Verfahren garantiert. (Das ist einer der vielen Gesetze der Verfassung von 2008, die von der Regierung von Rafael Correa nicht respektiert wurde, als nicht nur eine Gruppe von Kubanern abgeschoben wurde, sondern auch die Rechte anderer im Land arbeitender, aus Ecuador ausgewiesener Personen mit dem Füßen getreten wurden.)
Neben diesen Rechten wird für das Prinzip der universellen Staatsbürgerschaft, die Bewegungsfreiheit für alle Erdenbewohner und ein voranschreitendes Ende des Ausländer-Status als transformatives Element in den ungleichen Beziehungen zwischen den Staaten eingetreten. Die vergangene Woche im bolivianischen Tiquipaya zu Ende gegangene Weltkonferenz der Völker »Für eine Welt ohne Mauern, für eine universelle Staatsbürgerschaft« hat einen weiteren, wichtigen Beitrag zu dieser internationalen Debatte beigetragen.
Die Migrantinnen und Migranten sind Menschen. Sie dürfen nicht weiter nur als Produktionsfaktor angesehen werden. Und noch viel weniger als ungebetene Gäste. Der Weg hin zu einer universellen Staatsbürgerschaft muss die traditionellen Sichtweisen auf die Welt überwinden. Eine Welt, die durch so viele unnütze Grenzen aufgeteilt ist, Grenzen voller Blut und Hass.
Übersetzung: Benjamin Beutler
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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