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111-facher Protest gegen türkische Staatswillkür

Dozentin und Lehrer in Ankara weiter im Hungerstreik / Innenminister beschimpft sie als Terroristen

  • Jan Keetman
  • Lesedauer: 3 Min.

Eine Dozentin für Literatur, Nuriye Gülmen, und ein Grundschullehrer, Semih Özakca, haben ihren Hungerstreik für ihre Wiedereinstellung bis an den Rand des Todes getrieben. Beide gehören zu den gut 100 000 Personen, die seit der Verkündung des Ausnahmezustandes nach dem Putschversuch vom 17. Ju-li entlassen wurden. Außer ihrer Wiedereinstellung fordern sie auch die Rückkehr zumindest eines Teils der übrigen Entlassenen und die Aufhebung des Ausnahmezustandes in der Türkei.

Weil ihr Hungerstreik, den sie öffentlich in Ankara durchführten, Aufsehen erregt hat, wurden die beiden Hungerstreikenden des Terrorismus beschuldigt und inhaftiert. Die Logik ist ebenso klar wie universell einsetzbar: Wer gegen Maßnahmen der Regierung protestiert, die eventuell sogar zu landesweiten Unruhen wie 2013 nach der Räumung des Gezi-Parkes in Istanbul führen könnten, handelt im Sinne oder auch im Auftrag von Terrororganisationen, die auf diese Weise die Regierung stürzen wollen.

Die gleiche Logik wendet nun Innenminister Süleyman Soylu gegen die Unterzeichner einer Petition an, die den Staat auffordert, den beiden Hungerstreikenden entgegenzukommen, um ihren Tod zu verhindern. Zu den Unterzeichnern gehören Prominente wie der Musiker Arif Sag, die Schriftstellerin Elif Safak, der Journalist Can Dündar, der Parlamentsabgeordnete Ufuk Uras und die Schauspielerin Lale Mansur. Insgesamt 111 Intellektuelle haben die Petition unterzeichnet. Die Zahl der Unterzeichner steht symbolisch für den 111. Tag des Hungerstreiks.

Die Unterzeichner der Petition seien doch Leute, die weder der Polizei, noch dem Geheimdienst, weder Staatsanwälten noch Richtern vertrauen würden, wetterte Soylu. Stattdessen setzten sie sich für Leute ein, die Mitglieder einer Terrororganisation seien und die Wirklichkeit verdrehten. »Wissen Sie überhaupt, was Sie da unterschrieben haben?« fragt der Minister schließlich rhetorisch die Intellektuellen. Mit Mitgliedern einer Terrororganisation, er nennt die »Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front«, meint Soylu die Hungerstreikenden, obwohl diese bisher nicht verurteilt sind.

Nach Auskunft zweier Abgeordneter, die die Hungerstreikenden im Gefängnis besuchen durften, hat der Zustand der beiden Hungerstreikenden, die seit rund vier Monaten nur Flüssigkeiten und Vitamintabletten zu sich nehmen, mittlerweile ein kritisches Stadium erreicht. Die bereits vorher sehr schlank wirkende Nuriye Gülmen hat 14 kg Gewicht verloren, Semih Özakca sogar 23 kg. Beide haben Herzbeschwerden und können kaum noch gehen.

Eine wirkliche Alternative zum öffentlichen Protest haben die Geschassten kaum, denn wegen des Ausnahmezustandes können sie ihre Entlassung nicht gerichtlich anfechten. Zu Jahresbeginn wurde zwar eine Kommission ins Leben gerufen, die die Entlassungen überprüfen soll, aber schon personell gar nicht in der Lage ist, mehr als 100 000 Fälle zu beurteilen. Aufgrund der Umbesetzungen auf allen Ebenen der Justiz ist deren Neutralität bei Klagen gegen Maßnahmen der Regierung ohnehin zweifelhaft.

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