Papier, in dem das Leben lauert
Der Martin-Gropius-Bau stellt die Originalhandschrift zu Kafkas Roman »Der Prozess« aus
An seiner zeitweiligen Verlobten Felice Bauer mag Franz Kafka einiges fasziniert haben. Ihr souveräner Umgang mit moderner Technik gehörte zweifellos dazu. Zum Zeitpunkt ihrer ersten Begegnung im August 1912 arbeitete Bauer für die Carl Lindström AG, eine Firma, die unter anderem die ersten Grammophone mit beweglichem Tonarm produzierte. Als Stenotypistin war sie zudem mit allen Finessen der Schreibmaschine vertraut. So setzte Kafka (1883 - 1924), der sonst mit der Hand schrieb, seinen ersten Brief an Felice demonstrativ an den Tasten auf. Seinen unbeholfenen Gebrauch der Maschine erklärte er mit der Notlüge, dass er normalerweise ein anderes Modell benutze.
Hätte der Freizeitschriftsteller, der im Brotberuf als Jurist bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt beschäftigt war, auch seine literarischen Texte an der Maschine geschrieben, wäre der Martin-Gropius-Bau heute wohl um eine Ausstellung ärmer. Von diesem Freitag an wird dort das Originalmanuskript zu Kafkas Roman »Der Prozess« gezeigt - in konservatorisch unbedenklichem Dämmerlicht und geschützt in eigens angefertigten Vitrinen.
Diese Handschrift, die es nach dem testamentarisch bekundeten Willen ihres Urhebers überhaupt nicht mehr geben dürfte, hat eine abenteuerliche Rettungsgeschichte erlebt. Aufs Engste verbunden ist diese Geschichte mit dem Namen Max Brod. Kafkas Freund und späterer Nachlassverwalter rettete das Manuskript zunächst vor den Flammen, denen Kafka es übergeben wollte, und später noch einmal vor den nach Prag einrückenden Faschisten, auf deren Index das als »schädlich und unerwünscht« diffamierte Schriftgut Kafkas stand.
Als gedrucktes Buch brachte Brod den Fragment gebliebenen Roman »Der Process« erstmals 1925 heraus - in einer von ihm geordneten und bereinigten Fassung. Das Autograph gelangte 1988 auf einer Londoner Auktion in den Besitz des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Mit Unterstützung des Bundes, der Länder und privater Spender hatten die Marbacher über 3,5 Millionen D-Mark aufgebracht, um das Dokument zu erwerben. Mehr Geld war bis dahin noch nie für ein Manuskript bezahlt worden. Noch heute ist die »Prozess«-Handschrift das wertvollste Stück in der Kafka-Sammlung des Archivs - monetär und literaturgeschichtlich.
Dass die Ausstellung »Franz Kafka. Der ganze Prozess«, die 2013/14 schon einmal in Marbach gezeigt wurde, jetzt ausgerechnet im Gropius-Bau zu sehen ist, mag ungewöhnlich erscheinen, da die Literatur in diesem Haus sonst allenfalls eine Nebenrolle spielt. Es hilft aber bei der Beantwortung der Frage, worin eigentlich der Reiz von Schriftstellermanuskripten liegt.
Im Hotel »Askanischer Hof«, einst in unmittelbarer Nachbarschaft des Ausstellungshauses gelegen, fand am 12. Juli 1914 jenes Treffen zwischen Franz Kafka und Felice Bauer statt, das die »Entlobung« der beiden zur Folge hatte. Kafka scheint die Aussprache mit Bauer, die von ihrer Schwester Erna und ihrer Freundin Grete Bloch sekundiert wurde, als Verhör erlebt zu haben. Jedenfalls bezeichnete er das Ereignis wenig später in einem Tagebucheintrag als »Gerichtshof im Hotel«. Einen Monat darauf, der Erste Weltkrieg war gerade ausgebrochen, begann er mit der Niederschrift seines Romans »Der Prozess«. Der Prokurist Josef K. wird darin vollkommen unvermittelt in seinem Zimmer verhaftet, nicht näher definierter Vergehen beschuldigt und schließlich ohne Urteil hingerichtet.
»Handschriften«, schreibt Jochen Meyer, Herausgeber des Bild-Text-Bandes »Dichterhandschriften« und einst Leiter der Marbacher Handschriftenabteilung, »lassen Vergangenes als Gegenwart erscheinen. Gleichzeitig stellen sie das Vergehen der Zeit vor Augen.« Gemeint ist hier wohl jene »Aura«, die Walter Benjamin den Originalschöpfungen schon 1935 in seinem Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« attestierte. Zum Versprechen, dem Autor durch die Ansicht seines Manuskripts gleichsam leibhaftig zu begegnen, kommt im Falle der Ausstellung im Gropius-Bau die Authentizität des Ortes.
Ob Felice Bauer in Kafkas Roman anwesend ist - etwa in Gestalt von Josef K.s Zimmernachbarin »Fräulein Bürstner«, mit der sie nicht nur die Initiale teilt, sondern auch den Beruf als »Schreibmaschinistin« -, spielt an dieser Stelle keine Rolle. Bedeutsam ist hingegen ein sichtbarer Knick in den ausgestellten Blättern der Türhütergeschichte, die als einziger Teil des Romans bereits zu Kafkas Lebzeiten veröffentlicht wurde. Der Falz in der Mitte der betreffenden Seiten rührt von Felice Bauer. Erstmals seit der Trennung im »Askanischen Hof« war Kafka ihr im Januar 1915 in Prag wiederbegegnet, kurz bevor er die Arbeit am »Prozess« übrigens endgültig einstellte. Er las ihr aus dem Manuskript vor, wobei nur diese eine Passage ihr Interesse zu wecken wusste. Mit einem Messer trennte Kafka die beiden Blätter daraufhin aus dem schwarzen Wachstuchheft und gab sie Bauer zur Abschrift mit nach Berlin. Das fertige Typoskript sandte sie ihm dann in einem Kuvert zurück - zusammen mit den Manuskriptseiten, die gefaltet werden mussten, damit sie hineinpassten.
Von solchen Geschichten, die im und hinterm Papier lauern, ist in der Ausstellung nicht viel zu erfahren. Dafür lässt sich Kafkas Handschrift an zwei Monitoren Seite für Seite mit der im Stroemfeld-Verlag erschienenen historisch-kritischen Ausgabe vergleichen. In einem Nebenraum wird zudem dreimal täglich Orson Welles’ Verfilmung aus dem Jahr 1962 gezeigt, in einem weiteren Raum sind Kafka-Fotos und -Dokumente aus der Sammlung Klaus Wagenbach sowie eine stattliche Anzahl internationaler Ausgaben des Buches zu sehen. Und immerhin: Das Begleitheftchen mit Texten zahlreicher namhafter Autoren, das ursprünglich zur Marbacher Ausstellung erschien, ist in einer Neuausgabe erhältlich. Hier findet sich neben etlichen Reproduktionen der Manuskriptseiten einiges, das tiefer in die Geheimnisse der Exponate dringt.
Kafka hat die neun vollendeten und sechs unvollendeten Kapitel seines Romans binnen weniger Monate kreuz und quer in zehn verschiedene Hefte im Quartformat geschrieben. Zwischendrin notierte er Tagebucheinträge und Entwürfe zu anderen Texten. Nachdem er die Arbeit am Manuskript beendet hatte, trennte er die beidseitig beschriebenen »Prozess«-Seiten heraus und ordnete sie notdürftig in 16 Konvoluten. In der Reihenfolge, in die Max Brod die 171 Blätter brachte, sind sie nun zu betrachten und zu bewundern.
Nicht auszudenken, um wie viel ärmer die Menschheit, zumindest aber die Literaturwissenschaft, wäre, wenn Kafka - statt Notizbüchern und Stiften - einen Laptop zur Verfügung gehabt hätte.
»Franz Kafka. Der ganze Prozess«, bis zum 28. August im Martin-Gropius-Bau, Stresemannstr. 110, Kreuzberg.
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