Spätes Erwachen

Nelli Tügel über die Tragik des Massenprotestes in der Türkei

  • Lesedauer: 2 Min.

Die CHP - Partei der entmachteten kemalistischen Eliten und größte Oppositionsgruppe in der Türkei - marschierte drei Wochen lang von Ankara nach Istanbul. Ihr Vorsitzender Kemal Kılıçdaroğlu war aufgebrochen, nachdem mit seinem Stellvertreter Beberoğlu erstmals auch ein CHP-Abgeordneter vor Gericht gestellt und zu 25 Jahren Haft verurteilt worden war. Zehntausende schlossen sich Kılıçdaroğlus Protestmarsch an, der am Sonntag mit einer Kundgebung in Istanbul endete. Das ist eine starke, hoffnungspendende Machtdemonstration - und zugleich tragisch. Warum? Weil der Protest reichlich spät kommt. Und weil es die CHP war, die durch ihre Unterwürfigkeit gegenüber Erdoğan und durch ihren türkischen Nationalismus die Opposition zunächst geschwächt hat. Sie stand hinter der AKP, als 2015 der Krieg gegen die Kurden wieder aufgenommen wurde. CHP-Abgeordnete stimmten 2016 für die Aufhebung der Immunität von linken, prokurdischen HDP-Parlamentariern.

Trotzdem beteiligte sich auch die HDP an dem Protestmarsch und der Kundgebung am Sonntag. Die CHP ergreift die ihr ausgestreckte Hand zwar nur widerwillig, doch immerhin schlägt sie sie nicht aus. Die Frage ist nur: Kann Erdoğan jetzt noch gestoppt werden? Zehntausende sitzen bereits in den Gefängnissen, unter ihnen viele HDP-Politiker. Hätte, hätte Fahrradkette hilft da auch nicht weiter. Aber es drängt sich doch unweigerlich der Gedanke auf, was möglich gewesen wäre, hätte sich die CHP früher für Protest entschieden. Und dieser Gedanke ist nur schwer erträglich.

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