Die Bundesverfassungseinrichter
Roberto J. De Lapuente über die Rolle des obersten deutschen Gerichts in der Merkel-Ära und dessen Anflug von Fatalismus
Von Anfang an kritisierten Juristen das Tarifeinheitsgesetz (TEG) als verfassungswidrigen Eingriff der Regierung in die gewerkschaftliche Freiheit. Gebilligt haben es die Karlsruher Richter dann dennoch. Mit Abstrichen, denn es muss an mancher Stelle nachgebessert werden. So dürfen die Mehrheitsgewerkschaften in einem Betrieb keine Vorzugsbehandlung erhalten, wenn deren Abschlüsse Schlechterstellungen im Verhältnis zu Abschlüssen der Minderheitsgewerkschaft darstellen. Der Verfassungsbruch blieb aber aus, allen fachlichen Einschätzungen im Vorfeld zum Trotz.
Selten hat eine Regierung so kontinuierlich kritische Gesetze durch Bundestag und Bundesrat geboxt, wie es diese – bzw. auch die direkte schwarz-gelbe Vorgängervariante – tat. Man fragt sich, ob überhaupt Justiziare an die Gesetztextvorlagen herangelassen werden. Und falls ja, ob man ihnen vielleicht vorher einen Wink gibt, nicht zu kleinlich im Bezug auf grundgesetzliche Benchmarks zu sein. Das Spiel mit Karlsruhe haben die Kabinette Merkel I bis III zu einer dauerhaften Einrichtung etabliert.
Die Regierung schafft gesetzliche Tatsachen und wartet ab, bis die Damen und Herren Verfassungsrichter sich dazu äußern. Oder sie eilt zu irgendeinem Rettungsmechanismus, unterrichtet das Parlament nur unzureichend oder setzt es unter zeitlichen Druck, der eine eingängige Analyse des Vorhabens unmöglich macht, und lehnt sich dann gemütlich zurück, Karlsruhe reagiert ja erst später darauf. Dann erntet man zwar, wie im Juni 2012, eine Rüge des BVerfG über die Art und Weise, kann sich aber sicher sein, dass die sensiblen Eingriffe in die Verfassungsrealität, die zum Beispiel so ein Europäischer Stabilitätsmechanismus zeitigt, nicht mehr aufgehoben werden.
Stephan Hebel beschreibt dieses Praxis in seinem Buch »Mutter Blamage und die Brandstifter« wie folgt: »Wiederholt brachte Merkels Regierung trotz erheblicher verfassungsrechtlicher Bedenken Gesetze auf den Weg, deren Grundgesetzwidrigkeit das Verfassungsgericht im Nachhinein feststellen musste.« Aber die Richterinnen und Richter verstehen sich nicht als Spielverderber. Sie stellen zwar fest, empfehlen aber Nachbesserungen. Für die Aufhebung sind sie dann eher nicht. Was gäbe das für eine schlechte Presse! Das Kind ist nun mal in den Brunnen gefallen. In Karlsruhe übt man sich in Pragmatismus, nimmt hin, was nicht mehr zu ändern ist. Böse Zungen sehen dahinter eher Fatalismus.
Insofern hat sich das Karlsruher Gericht in den Jahren von Merkels Regierung ein neues Selbstverständnis angeeignet. Eigentlich verstehen sich die Herrschaften nicht mehr als Richter, sie sind viel mehr zu einer juristischen Spielart von Einrichtern geworden: Sie richten Gesetze, die einen schlechten verfassungsrechtlichen Leumund haben, so ein, dass sie trotzdem irgendwie installiert bleiben können. Vor gemachte Tatsachen gestellt versteht man sich so als Bewahrer der Kontinuität: Auch wenn die eventuell gar nicht so verfassungskonform ist.
Das TEG ist nun also gar kein Verfassungsbruch, wie man im Vorfeld von vielen Seiten hörte. Die Leitartikler freuen sich. Bei der FAZ tun sie das logischerweise, aber selbst in der Frankfurter Rundschau schließt man mit den Worten, dass »man mit dem Totschlagargument verfassungswidrig sparsamer umgehen sollte«. Die Frage ist aber doch jetzt, ob das TEG nun wirklich nahtlos mit den grundgesetzlichen Einschränkungen kompatibel ist – oder ob die Karlsruher Bundesverfassungseinrichter genau das tun: Die Verfassungsmäßigkeit zugunsten des Gesetzes einrichten.
Wir haben es hier mit einer Praxis zu tun, die darauf abzielt, das BVerfG insofern zur Konformität zu zwingen, als dass es die vorgesetzte Realität hinnehmen muss. Etwaiger Druck der Öffentlichkeit und einer Presse, die bestimmte Gesetzesvorhaben mit spitzer Feder begleitet, tun das Übrige. So geht man eben konstruktiv ans Destruktive heran.
Ei oder Huhn? Verfassungskonformität oder Verfassungsrealität? Hier vermischen sich Wirkung und Ursache. Offenbar sind wir hierzulande in einer schlechten Verfassung.
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