Volksbefragung mit Zündstoff
Venezuelas Opposition führt eigenständiges Referendum über Verfassunggebende Versammlung durch
War der Frühling in Venezuela schon heiß, so verspricht der Sommer brennend heiß zu werden. Für reichlich Konfliktstoff sorgt die geplante umstrittene Verfassunggebende Versammlung. Der Vorschlag dazu kam Anfang Mai von Präsident Nicolás Maduro. Seither tobt der Streit der Verfassungsgelehrten darüber, ob der Präsident die verfassungsmäßige Kompetenz habe, eine solche Versammlung direkt zu initiieren, oder nur mit Zustimmung der Bevölkerung per vorangeschaltetem Referendum. Die Opposition, die zum Sturz auf die Regierung geblasen hat, vertritt die zweite Interpretation. Für sie verbirgt sich hinter dem Projekt einer neuen Verfassung ohnehin nichts anderes, als die totalitären Ambitionen des Präsidenten, gegen den sie seit nunmehr über 100 Tage mit intensiven Straßenschlachten Sturm läuft und die inzwischen ebenso viele vor allem jugendliche Todesopfer auf beiden Seiten gefordert haben. Für die Opposition ist klar: Mit der neuen Verfassung solle ein politisches und wirtschaftliches Modell legitimiert werden, mit dem die Demokratie endgültig begraben werde.
Kaum hatte die Regierung die Wahl der Delegierten zur Verfassunggebenden Versammlung auf den 30. Juli festgelegt, begann die im »Tisch der demokratischen Einheit« (Mesa de la Unidad Democrática - MUD) zusammengeschlossene Opposition eine Volksabstimmung zu organisieren. Um Maduros aus ihrer Sicht verfassungswidriges Vorgehen zu unterstreichen, hat sie für Sonntag zu einem landesweiten Referendum aufgerufen. Zu drei Fragen soll sich die Bevölkerung äußern. Erstens soll der Aufruf des Präsidenten eine Verfassunggebende Versammlung zu wählen abgelehnt werden? Zweitens sollen die Streitkräfte und die mehr als zwei Millionen staatlichen Funktionäre dazu aufgefordert werden, die gegenwärtige Verfassung von 1999 zu verteidigen und die Entscheidungen der Nationalversammlung zu unterstützen? Und drittens sollen die drei Staatsgewalten unter den von der gültigen Verfassung vorgegebenen Bedingungen erneuert werden?
Oscar Torres ist ein venezolanischer Jurist. Der 71-Jährige lebt und arbeitet in Caracas.
Rechtlich begründet der MUD das »Referendo Consultivo« mit dem Artikel 71 der Verfassung, der Volksbefragungen regelt. Auch wenn das Resultat weder bindend ist, noch zu irgendeiner Amtsenthebung führt, wird vor allem die Beteiligung ein wichtiger Gradmesser für den Rückhalt von Opposition und Regierung in der Bevölkerung sein. Die Regierung hat das Vorhaben denn auch eiligst als illegal abqualifiziert, da es nicht vom Obersten Wahlrat organisiert sei, der allein dazu legitimiert sei.
Die Herausforderung für die Opposition ist enorm. Rund neun Millionen Wahlberechtigte können an nur weniger als 4000 über das ganze Land verstreuten Wahltischen ihre Voten abgeben. Kontrolliert wird der Vorgang von einer Vielzahl von Freiwilligen, die eine Aufgabe bewältigen sollen, für die es etwas mehr als guten Willen bedarf. Zu erwarten steht, dass das Ergebnis sehr ungünstig für die Regierung ausfallen wird.
Sicher ist schon jetzt, dass Artikel und Berichte mit unterschiedlichen Analysen und juristischen Fragestellungen über die realen Auswirkungen der Resultate die großen Medien überfluten werden.
Überraschend hat die Regierung für den kommenden Sonntag nun eine Wahlsimulation für die Wahl der Delegierten zur Verfassunggebenden Versammlung angeordnet. Das ist eine übliche Maßnahme, die in der Regel vor allen wichtigen Wahlen durchgeführt wird und, bei der das Funktionieren der elektronischen Wahlgeräte getestet wird. Zugleich wird die Mobilisierung der Mitglieder der Regierungspartei PSUV geprobt. Nach der Formel einer für zehn soll jedes Mitglied zehn weitere Wahlberechtigte zur Stimmabgabe bringen. Für die Opposition ist es ein provokatives Ablenkungsmanöver. Sie befürchtet, die Regierung könne den PSUV-Mitgliedern befehlen, gleich mehrfach an den Wahltischen gegen das Referendum zu stimmen, um anschließend die Glaubwürdigkeit der Resultate infrage stellen zu können. Venezuela steht einmal mehr vor einem spannungsreichen Wochenende.
Oscar Torres lebt und arbeitet als freier Journalist in Caracas. Übersetzung: Jürgen Vogt
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