Unter Gleichaltrigen

Immer mehr Schulen geben das Konzept des jahrgangsübergreifenden Lernens auf

  • Ellen Wesemüller
  • Lesedauer: 4 Min.

»Aktuelle Info«, heißt es auf der Webseite der Brüder-Grimm-Grundschule im Weddinger Sprengelkiez: »Die Schule wird ab dem Schuljahr 2017/2018 den Unterricht in altershomogenen Klassen organisieren. Ab September gibt es dann wieder Klasse 1 bis Klasse 6.«

Damit ist die Schule nur eine von vielen, die das pädagogische Konzept des jahrgangsübergreifenden Lernens, kurz: JüL, wieder aufgeben. Die Idee war gut: Hier sollten Kinder unterschiedlichen Alters zusammen lernen, entweder von Klasse 1 bis 3 und 4 bis 6, oder nur in den ersten beiden Jahren. Kinder sollten voneinander statt nur vom Lehrer lernen. Und besonders Kindern mit Lernschwierigkeiten sollte so mehr Zeit gegeben werden, in der Schule anzukommen, ohne gleich Sitzenbleiben zu müssen. Warum also aufgeben?

Frank Riebesell ist kommissarischer Schulleiter an der Brüder-Grimm-Grundschule. Er sagt: »JüL setzt voraus, dass Kinder gut selbst lernen können.« Doch hier kommen über 80 Prozent aus schwierigen sozialen Verhältnissen, noch mehr haben Deutsch nicht als Muttersprache gelernt. »Die schulischen Voraussetzungen sind bei uns, gerade in der ersten Klasse, gering«, sagt Riebesell.

Genau diesen Kindern sollte JüL eigentlich helfen. Das Konzept wurde bereits 2005 eingeführt. Aufgrund der Proteste von Eltern und dem Druck der Opposition hatte der 2006 ins Amt gekommene Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) erlassen, dass, wer nicht mitmachen wollte, einen entsprechenden Antrag stellen konnte. Wegen der vielen Anträge überließ es Zöllner ab 2011 wieder den Schulen, ob sie jahrgangsübergreifenden Unterricht anbieten wollen.

Nichtsdestotrotz will auch die rot-rot-grüne Koalition am Konzept festhalten. Im Koalitionsvertrag heißt es sogar: »Die Koalition wird die pädagogische Arbeit in JüL-Gruppen stärken.« Dafür aber braucht es Lehrer, Erzieher und Klassenräume, denn vorgesehen ist, dass nicht nur eine Lehrkraft in der Klasse steht, sondern gleich zwei plus eine Erzieherin. Und dass es für die unterschiedlichen Altersgruppen die Möglichkeit gibt, sich auf verschiedene Räume aufzuteilen, sogenannte Teilungsräume.

»Für JüL braucht es persönliche, räumliche und fachliche Kontinuität und Ausstattung«, weiß auch Riebesell. »Je mehr Struktur, desto leichter ist es.« Doch genau daran mangelt es. »Es war ja versprochen worden, dass es ein erhöhtes Personal gibt. Die Lehrer stehen aber oft allein in der Klasse.«

Nicht nur der allgemeine Lehrermangel macht der Schule zu schaffen: Die Anwärter schreckt auch die Nachbarschaft ab. »Wir sind hier Mitten in Wedding«, sagt Riebesell. »Da bin ich froh, dass ich überhaupt den Grundbedarf an Personal decken kann.« Seit Januar vertritt er den Schulleiter, seitdem musste er sechs Stellen besetzen. Das hat er geschafft, aber: »Die Biografien sind sehr vielfältig. Die wenigsten haben eine Standard-Ausbildung.« Dass die Schule JüL anbietet, habe zudem abgeschreckt: »Viele haben mir deswegen einen Korb gegeben. Die kommen von der Uni und sagen: ›Das ist mir zu anstrengend. Das habe ich auch gar nicht gelernt.‹«

Riebesell ist nicht allein. Auch die benachbarte Erika-Mann-Grundschule wird nach den Sommerferien teilweise auf JüL verzichten müssen - obwohl Schüler, Lehrer und Eltern vom pädagogischen Konzept überzeugt sind. Elternvertreter Jan Krebs sagt: »Die Debatte um JüL wird sehr emotional geführt. Ich kann nur sagen: An dieser Schule läuft es toll.« Im Gegensatz zur Brüder-Grimm-Grundschule ist die Schule mit Theaterschwerpunkt jedoch stark nachgefragt. Für JüL braucht man Räume, die es aufgrund steigender Anmeldungen nicht mehr gibt. Nach den Sommerferien muss die Schule deshalb eine Klasse 1 anbieten (»nd« berichtete). »Noch weniger Raum ist die Folge«, sagen die Eltern.

Die Bildungsverwaltung hält trotz allem daran fest, dass der JüL-Unterricht, zumindest in der ersten und zweiten Klasse, gegenüber dem altershomogenen Unterricht die Regel und nicht die Ausnahme ist. Aktuelle Zahlen darüber lägen aber erst im Oktober vor. Auch über mögliche Gründe der Rückkehr zum alten Konzept schweigt sie sich aus. Ein Blick in die Statistik vom vergangenen Schuljahr zeigt jedoch, dass die Realität genau umgekehrt ist: Den 1219 jahrgangsbezogenen Lerngruppen stehen nur noch 1092 JüL-Klassen gegenüber. In der dritten Klasse wird der Unterschied sogar noch gravierender: Während es 916 Regelklassen gibt, starten nur noch 193 JüL-Klassen.

Auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), eigentlich Befürworterin des Konzepts, äußert sich inzwischen differenziert. Der Berliner Vorsitzende Tom Erdmann sagt: »Die Zusage war, dass immer eine Erzieherin mit in der Klasse ist - das ist nicht eingehalten worden.« Für Lehrer gäbe es zu wenig Fortbildungen. »JüL trägt der Heterogenität der Schüler Rechnung. Aber als jemand, der die Beschäftigten im Blick hat, muss ich sagen: Ich kann die Kollegen nicht verurteilen.«

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