Das bessere Leben für alle!
Evgeny Makarovs Bildband »Die Datscha. 600 m² Glück« umweht ein Hauch von Freiheit
Die russische Datscha unterscheidet sich grundlegend vom deutschen Schrebergarten. Das sieht man gleich beim Betrachten der Fotografien in Evgeny Makarovs Bildband, in dem er die Datscha als »600 m² Glück« feiert. Die Schrebergartenkolonien haben ihre Vereinsstrukturen und Reglements. Beispielsweise ist das dauerhafte Wohnen im Schrebergarten behördlich untersagt. Der Schrebergarten gehört zu Feierabend und Wochenende, als Dispens vom Alltag, während die Datscha selbst einen Alltag behauptet. Natürlich verbringen die russischen Städter auch ihre Wochenenden in ihren Landhaussiedlungen. Das Versprechen aber, das sie zu geben scheinen, ist allgemeiner. Die Datscha hat Platz für ein Leben neben dem Leben. Die Häuser eignen sich zum Wohnen, manche wurden winterfest gemacht.
Makarovs Bilder zeigen auf der Datscha verbrachte Kindheiten, Sommer und Alter - allesamt magische Zeitabschnitte, die ein Hauch von Freiheit umweht. Die Datscha scheint nahezu für einen universell alternativen Lebensentwurf zu stehen: keine linksautonome Folklore, sondern der bessere Mainstream. Das bessere Leben nicht nur für die wenigen Aufgeklärten - nein - das bessere Leben für alle! Ein wenig Romantik haftet Makarovs Fotos an, aber warum eigentlich nicht? Das Einfache und Unmittelbare kann schließlich so schön sein - und unmittelbar und einfach sind der Sommer und die Kindheit. In ihrer Unbekümmertheit liegt das Glück.
Auf dem Cover sieht man eine alte Frau in einem weiß-blau geblümten Kleid auf einer Holzbank liegen. Mit ihrem rechten Arm greift sie in die Äste eines Kirschbaumes. Ihr Name ist Anna, man begegnet ihr in Makarovs Bildband noch einige Male. Wir sehen in das Innere ihres kleinen Häuschens, sehen den alten Röhrenfernseher, eingefasst in das dunkle Holz eines Wohnschrankes, umrahmt von den Blüten einer rosa Tapete. Wir erfahren von einem Brand, der vor wenigen Monaten ihr Grundstück erfasste, und wir sehen sie mit einer großen Gießkanne bei der Pflege ihres grünen, dicht bewachsenen Gartens. Wir erfahren, dass sie nun ganz auf ihrer Datscha lebt, weil sie St. Petersburg nicht mehr erträgt: »In der Stadt werde ich nur krank und müde«, erzählt sie. Die Bilderserien sind mit kleinen Texten versehen.
Der Fotograf selbst wurde 1984 in St. Petersburg geboren. Nach der Übersiedlung der Familie nach Deutschland 1992 geht es weiterhin jeden Sommer mit dem voll beladenem Auto 1500 Kilometer über Dänemark, Schweden und Finnland zur Datscha. Für Makarov war das der Höhepunkt eines jeden Schuljahres, sein eigentliches Jahr hatte nur sechs Wochen Schulferien lang Bestand.
Die Bilder hat Makarov vor zwei Jahren aufgenommen. Sie entstanden im Rahmen des Masterclassprogramms von World Press Photo. Das klingt dann gleich wieder so professionell und geschäftig. Also zurück zu den Bildern, die die Schönheit eines postsozialistischen Phlegmatismus predigen.
Auf einer Motorhaube steht eine Schale mit schwarzen Oliven nebst leeren Wodkagläsern. Eben noch wurde mit nachbarschaftlicher Hilfe an einem Auto herumgeschraubt. Nun reicht’s aber. Vor einem Containerladen ruhen Wassermelonen in einer Holzkiste. Ein kleiner Junge schaut durch einen Spalt in der Tür. Ein Mann in einem dünnen blauen Mantel betritt mit einem Schweinebein durch eine Holzpforte den Hof. Er ist zu Gast auf einem Grillfest. In der Hand eines Jungen liegen drei kleine Fischchen. Wir sehen ihn mit einer Angel und einem grünen Eimer. Das war sein Tag, vielleicht sogar sein Jahr auf der Datscha.
Evgeny Makarov: Die Datscha. 600 m² Glück. Sieveking Verlag, 148 S., geb., 39,90 €.
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