Die Überlebenden sind wütend
Norwegen: Sechs Jahre seit dem Utoya-Anschlag ist das Trauma gegenwärtig
Norwegen blickt am Samstag mit Gedenkveranstaltungen auf den schlimmsten Terror im Lande seit der NS-Besatzungszeit zurück. Vor sechs Jahren ermordete der Rechtsradikale Anders Breivik 69 Menschen, die meisten davon Jugendliche, beim Sommercamp der sozialdemokratischen Nachwuchsorganisation auf der Insel Utoya. Kurz zuvor hatte er mit einer Bombe im Osloer Regierungsviertel acht Menschen getötet. Sein Motiv: Die Arbeiterpartei für ihre Bereitschaft zu bestrafen, Menschen aus muslimischen Ländern aufzunehmen.
Jenen Tag überlebte die damals 20-jährige Jorid Nordmellan zusammengekauert unter einem Bett mit einer Freundin zusammen, ohne Fluchtweg. Nur weil sie die Fenster mit Matratzen verbarrikadiert hatten, konnte Breivik kein Tränengas hineinwerfen, um sie hinaus in seine Abschusslinie zu treiben, wie die Jugendlichen, die sich in anderen Gebäuden auf Utoya versteckt hatten.
Nordmellan hatte lange mit den Erinnerungen zu kämpfen. Um nicht allein mit ihren Gefühlen zu sein, ist sie alljährlich zu der, auch in diesem Jahr wieder stattfindenden Gedenkveranstaltung auf Utoya gefahren. »Ich bin jedes Jahr da gewesen, das war notwendig. Letztes Jahr hatte ich dann aber das Gefühl, ich brauche es nicht mehr, sondern komme auch so durch diesen Tag«, sagt sie. Inzwischen steht die Sozialdemokratin mitten im Leben. Sie hat Ehemann Lasse und den eineinhalbjährigen Sohn Haagen an ihrer Seite. Bei den Wahlen im Herbst kandidiert sie für einen Parlamentssitz.
»Es gab genau zwei Fraktionen von Überlebenden: Die, die sich einschlossen, mit der Politik völlig aufhörten und teils heute noch krankgeschrieben sind. Die sich wegen Angstzuständen nicht aus ihren Wohnungen trauen. Und die anderen, die mit noch mehr Arbeit und politischem Engagement versucht haben, das zu überstehen«, erzählt Nordmellan. Vor allem die Jüngeren, die noch unter 16 waren, hätten es auch heute noch schwer, sagt sie.
Norwegens Kinderhilfswerk hat Überlebende nach dem Anschlag 2011 und vor kurzem wieder interviewt. Es kommt zum Ergebnis, dass junge Überlebende ihre Gefühle lange unterdrückten, um der sozialdemokratischen Parteiführung entgegen zu kommen. Die hatte vor allem Liebe und Zusammenhalt gepredigt. Zornige Aussprüche waren tabu. Heute brechen dafür umso stärker Wut und Angst bei Überlebenden auf, so die Studie.
Über Breivik, der unlängst wieder Aufmerksamkeit mit einem Prozess zu seiner vermeintlich unmenschlichen Isolationshaft auf sich zog, wird in Norwegen weiterhin geredet. »Die Leute denken noch an ihn, aber es wird weniger«, sagt Nordmellan.
Ein Dorn im Auge ist ihr der Denkmalstreit. Die Regierung hat das bereits bewilligte Projekt »Wunde der Erinnerung« gekippt. Dazu sollte eine Landzunge vor Utoya zerschnitten werden. Man wolle keinen Rechtsstreit darüber, so die Regierung.
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