Kommerzielles Nebenschulsystem
Nachhilfeunterricht hat zu Beginn der Sommerferien Hochkonjunktur / Vier Milliarden Euro werden jährlich für private Bildungsanbieter ausgegeben
Nachhilfe hat ihre Saisonhöhepunkte. Im Winter steigt der Bedarf nach Ausgabe der Halbjahreszeugnisse, wenn Eltern sich über schlechte Noten oder gar die gefährdete Versetzung ihres Kindes Sorgen machen. Im Sommer, wenn die staatliche Schule Pause macht, legen die privaten Bildungsanbieter Extraprogramme auf. »Die Ferien clever nutzen«, wirbt etwa der Studienkreis, einer der Großen der Branche.
Vier Milliarden Euro jährlich werden in Deutschland für Nachhilfe ausgegeben, Tendenz deutlich steigend. Eine Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung ergab 2016, dass zwei Drittel dieser Summe, also mindestens 2,5 Milliarden Euro, in einen undurchsichtigen »grauen Markt« fließen. Bis zu 700 000 Menschen, oft Ruheständler oder Studierende, verdienen sich nach Schätzungen mit dem Unterrichten etwas dazu. Die Zahl der hauptberuflich Beschäftigten beziffert der Bundesverband Nachhilfe- und Nachmittagsschulen (VNN) auf rund 50 000.
Wichtigste Firmen sind die bereits erwähnte Studienkreis-Gruppe mit Sitz in Bochum und die ZGS Bildungs-GmbH in Gelsenkirchen, die unter dem Label »Schülerhilfe« auftritt. Der bereits 1974 gegründete Studienkreis gehörte zwischenzeitlich zur Franz Cornelsen Bildungsholding, laut Eigenwerbung »eine der größten privaten Bildungseinrichtungen Europas« mit mehreren Schulbuchverlagen. Inzwischen hat der Münchner Finanzinvestor Aurelius den Studienkreis übernommen. Unter dem neuen Dach sind knapp 1000 Nachhilfeschulen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Luxemburg zusammengefasst.
Schärfster Konkurrent ist die Schülerhilfe. Hinter dem altmodisch klingenden Namen verbergen sich auch hier weit verzweigte unternehmerische Verflechtungen. Was vor fast vierzig Jahren in unscheinbaren Räumlichkeiten im Ruhrgebiet begann, ist längst integriert in einen global tätigen Bildungskonzern. Die Schülerhilfe war lange eine Tochter des Sylvan Learning Centers, des größten privaten Nachhilfeanbieters in Nordamerika. Das US-Unternehmen wiederum war Teil der börsennotierten Weiterbildungsgruppe Educate, finanziert von den Equity-Firmen Paragon Partners und Syntegra Capital. Inzwischen hat die Deutsche Beteiligungs-AG, die zu einem Viertel dem Drogeriekettenbesitzer Dirk Rossmann gehört, die Schülerhilfe übernommen. Sie betreibt derzeit rund 1050 regionale Standorte in Deutschland und Österreich. Neben eigenen Filialen vergibt sie vorwiegend Lizenzen im Franchise-System an selbstständige Subunternehmer.
Dennoch decken Studienkreis und Schülerhilfe zusammen erst 15 Prozent des Nachhilfemarktes ab. Gemeinsam mit mittelgroßen Bildungsdienstleistern wie Lernwerk oder Abacus ergibt sich ein Anteil von gerade mal 25 Prozent. Den großen Rest teilen sich lokal agierende Mini-Institute, ältere Schüler, Studierende, pensionierte Lehrerinnen oder Selbstständige im privaten Wohnzimmer, die auf eigene Rechnung arbeiten. Oft werden dabei Leistungen jenseits von Steuer und Sozialversicherung erbracht. Die Preise schwanken stark: Eine Stunde kann je nach Region, Ausbildung der Lehrkräfte und Form des Unterrichts zwischen zehn und 70 Euro kosten.
Die teuren Anbieter werben mit gezielter Vermittlung der passenden Pädagogen und genauer Kontrolle des Lernerfolgs. Beim Studienkreis bleiben die Kinder und Jugendlichen im Schnitt ein knappes Jahr. Unterrichtet wird in Kleingruppen oder in den besonders kostspieligen Einzelsitzungen. Extras sind Wiederholungsstunden vor wichtigen Prüfungen und Intensivkurse während der Schulferien mit Abenteuercharakter. Das »Fußballcamp mit Lernschule« des Studienkreises ist eine Kombination aus Nachhilfe und Urlaub. Unter dem Motto »Sinus, Cosinus und Wattenmeer« wirbt die Schülerhilfe für einen Sommeraufenthalt auf Sylt.
Schon 2006 kritisierte die Stiftung Warentest, dass manche Institute bis zu neun Kinder in eine Lerngruppe stecken. Sie monierte damals auch hohe Aufnahmegebühren und lange Vertragszeiten ohne Kündigungsmöglichkeit. Es gebe reichlich schwarze Schafe, eine Kontrolle finde kaum statt, lautete das Fazit der Warentester. Ein Teil der Anbieter lässt sich inzwischen vom TÜV prüfen. Der Interessenverband VNN hat verbindliche Standards erarbeitet, doch 70 Prozent der Nachhelfenden unterrichten weiterhin ohne jede Qualitätsprüfung.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft wettert seit langem gegen das »kommerzielle Nebenschulsystem«, sie will es staatlich kontrollieren. Die für Schulen zuständige Vorstandsfrau Ilka Hoffmann kritisiert eine »schleichende Privatisierung« - und die Verschärfung einer sozialen Schieflage im Bildungssystem. Indizien dafür fand 2010 eine regionale Auswertung der Bertelsmann-Stiftung: Danach ist die Nachhilfe-Nutzung in Baden-Württemberg und Hamburg, in Bundesländern mit überdurchschnittlichem Einkommen also, besonders hoch. In den vergleichsweise ärmeren Ländern Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern gaben Eltern nur halb so viel für den Zusatzunterricht ihrer Kinder aus.
Der Bildungsforscher Klaus Hurrelmann, der an der Berliner Hertie School of Governance lehrt, interpretiert den Boom der Nachhilfe als Misstrauensvotum gegenüber staatlichen Institutionen. Überforderte Lehrer, zu große Klassen, hoher Anpassungsdruck - es gebe viele Gründe, warum Kinder in der Schule scheitern. Mitverantwortlich machen Fachleute auch das (noch lange nicht überwundene) deutsche Halbtagsschulsystem, das Hausaufgabenbetreuung und die Vertiefung des Stoffes ganz selbstverständlich an die Familien delegiert.
Vielen Müttern und Vätern fehlt entweder die Zeit oder die Qualifikation, manchmal auch beides, um ihren Kindern wirklich helfen zu können. Den Stoff höherer Gymnasialklassen haben selbst akademisch Gebildete längst vergessen. Die Erinnerungen an Logarithmus und Integralrechnung, an die Interpretation von Gedichten oder an komplizierte Fremdsprachengrammatik sind verblasst. Psychologen halten Eltern ohnehin nicht für die idealen Zusatzlehrer; sie warnen, diese säßen in ihrer Doppelrolle als Tröster und Trainer zwischen den Stühlen. Doch einen Pädagogen von außerhalb zu engagieren, überfordert oft die Haushaltskasse. Wer gut verdiene, spitzt Hurrelmann zu, verfüge schlicht über das Privileg, »sich einen Bildungsvorteil kaufen zu können«.
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