Es gibt immer noch Helden
Wie souverän ist der Mensch noch in Zeiten der Digitalisierung?
Das souveräne Subjekt ist tot - davon gingen zumindest einige Vertreter des Poststrukturalismus aus. Aber ist diese Annahme haltbar? Schaut man auf die Digitalisierung, scheint sich diese auf den ersten Blick zu bestätigen. Anonyme Algorithmen herrschen dort, undurchsichtige und kilometerlange Nutzungsbestimmungen regeln die Kommunikation, und die Macht der vielen kleinen, angeblich wahnsinnig praktischen Apps auf unseren Smartphones ist schwer zu greifen. Da scheint es keinen Regenten zu geben, der die Fäden in der Hand hält. Zu ausdifferenziert, pulverisiert und gasförmig ist diese Macht, die uns diszipliniert und kontrolliert. Nichts liegt also näher, als die digitalen Phänomene herrschaftskritisch mit den Konzepten von Michel Foucault, Gilles Deleuze oder Bruno Latour zu analysieren. Welche mikropolitische Funktion hat ein Like-Button? Wie wird der Facebook-Nutzer von den permanenten Freundschaftsanfragen beeinflusst? Wie hoch ist das subversive Potenzial einer Hacker-Gruppe wie »Anonymous«?
In ihrem Buch »Kritische Kollektivität im Netz«, das eine erweiterte Dissertation ist, geht die Soziologin und Journalistin Carolin Wiedemann unter anderem diesen Fragen nach. Man könnte meinen, die Theorien zum Dispositiv, zur Kontrollgesellschaft und zur Gouvernementalität sind ideal, um Klarheit über die digitale Gegenwart zu gewinnen. Und durchaus sind einige Passagen in ihrer Kleinteiligkeit erhellend, doch in toto tappt der Leser, mag er auch noch so sehr mit den hippen französischen Konzepten der vergangenen Jahrzehnte vertraut sein, im Dunkeln. Das liegt weniger an der Komplexität der Materie als an dem Wortgeklingel, das diesen Theorien innewohnt. Zudem hat sich die Autorin nicht gerade der Verständlichkeit verschrieben. So heißt es über Deleuzes Forderung nach Deterritorialisierung zum Beispiel: »Die Deterritorialisierung ist negativ, wenn das deterritorialisierte Element durch die Reterritorialisierung verdeckt und so kompensiert wird, dass die Fluchtlinie der Deterritorialisierung blockiert bleibt.«
Nun ist es inzwischen recht abgeschmackt, sich über diesen postmodernen Dadaismus lustig zu machen. Aber zwei ernst gemeinte Fragen seien gestattet: Was soll der Leser damit anfangen? Und sind diese Theorien wirklich hilfreich und kritisch? Gewiss, das Handeln des Users im Internet ist von diversen Machtdiskursen durchzogen und eine personifizierte Macht ist kaum auszumachen. Das merkt jeder, der einmal versucht hat, direkt Fragen an Google oder Facebook zu richten. Derjenige wird sich bald wie der Landvermesser K. aus Franz Kafkas Roman »Das Schloß« fühlen, der angesichts des bürokratischen Apparats ohnmächtig ist, aber mächtig regiert und drangsaliert wird. Doch dies ist eben nur die eine Seite der Medaille, welche sich mit Foucault und Deleuze fabelhaft blank polieren lässt. Doch heißt das gleich, dass man sich, wie Wiedemann es tut, vom handlungsfähigen Subjekt verabschieden muss, weil es bloß ein Diskurseffekt sein soll? Es gibt eben noch die andere Seite der Medaille, auf der für gewöhnlich das Konterfei eines Herrschers prangt. Für diese Seite ist Wiedemann blind, aber das ist nicht allein ihr Problem, sondern vor allem das ihrer theoretischen Gewährsmänner. Sie ignorieren nämlich eine Tatsache: Wer von Macht spricht, darf von den Mächtigen nicht schweigen.
Die mantraartig wiederholte These von der Auflösung des Subjekts, und mit ihr das ständig verkündete Ende souveräner Handlungsmacht, ist mehr als fragwürdig. Es mag vielleicht zutreffend sein, dass der ständig vernetzte, in den technokratischen Heilsversprechungen aufgehende Bürger an Souveränität eingebüßt hat und er stärker von den Algorithmen, Netzwerken und Gadgets regiert wird, als er sich vorstellen kann. Doch das ist eben nur ein Teil der Wahrheit. Wenn tatsächlich das handelnde Subjekt passé ist, wie kann es dann sein, dass wir seit einigen Jahren eine erneute Erstarkung des autoritär agierenden Souveräns beobachten?
Auf dem politischen Parkett erlässt Donald Trump laufend Dekrete, sperrt Recep Tayyip Erdoğan Journalisten ein, möchte Theresa May im Kampf gegen den Terror die Menschenrechte einschränken. Auch Angela Merkels Grenzöffnung für Geflüchtete war übrigens ein souveräner Akt.
Auf dem Wirtschaftsparkett ist das nicht anders, sieht man sich die Herren (Damen sind eher eine Seltenheit) im Silicon Valley an: Von einem auf den anderen Tag werden die Nutzungsbedingungen von Google, Twitter oder WhatsApp geändert und der Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, der sich werbewirksam als Philanthrop in Szene setzt, faselt von einer »globalen Gemeinschaft«, was selbstverständlich meint, dass die gesamte Menschheit seiner kommerziellen Plattform beitreten soll. Lapidar antwortete Zuckerberg einmal auf die Frage, wie es um die Privatsphäre der Bürger bestellt sei: »Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten.« Das ist Machiavellismus in Reinform. Der Tesla-Gründer Elon Musk arbeitet sogar derzeit an geopolitischen Projekten, die selbst für Staatspräsidenten zu groß sind. So will Musk bald den Mars besiedeln und ein Interface kreieren, mit dem das menschliche Gehirn unmittelbar mit dem Computer vernetzt ist.
Wie Letzteres sich auf das Subjekt auswirken kann, mag man mit Foucault oder Latour trefflich analysieren können. Noch aber ist der Mensch handlungsfähig. Man sollte nicht darauf warten, bis der technische Fortschritt die poststrukturalistischen Thesen in die Tat umsetzt. Wesentlich wichtiger wäre daher eine Analyse, die die Akteure hinter diesen Entwicklungen in den Blick nimmt. Die poststrukturalistischen Ansätze mögen zwar Aufschluss über die Wirkmechanismen einzelner Funktionen geben können, doch sie verkennen, dass dahinter souverän agierende Personen stehen. So werden Foucault, Deleuze und ihre Epigonen letztlich zu Vasallen der mächtigen Konzerne und deren - wie auch der staatlichen - Überwachungspolitik, weil sie darüber hinwegtäuschen, wer eigentlich regiert.
Die Macht ist eben nicht, wie Deleuze in seinem »Postskriptum über die Kontrollgesellschaft« glaubte, »gasförmig«. Gasförmig erscheinen lediglich die Auswirkungen: Wieder eine hübsche Funktion am Smartphone mehr, durch die wir überwacht werden können, wieder ein neuer Algorithmus zur effektiveren Personalisierung von Werbung. Bei all den mikropolitischen Folgen dürfen aber die beinahe omnipotenten Akteure nicht vergessen werden. Vorerst empfiehlt es sich, die Technik-Bosse wie Politiker zu betrachten. Bereits ein Blick auf die Lebensläufe vieler Technokraten in der digitalen Wirtschaft sind erhellend: Manche kommen vom Militär, manche sind - wie Elon Musk - parallel Politikberater, andere wiederum reüssieren nach dem Verkauf eines erfolgreichen Start-ups an der Wall Street oder gründen einen Thinktank für geopolitische Strategien. Zunehmend scheint es egal zu sein, wer - unter ihnen - gerade Bundeskanzlerin oder Präsident ist.
Um den undemokratischen Herrschern aus dem technisch-wirtschaftlich-politischen Komplex entgegenzutreten, braucht es große Männer und Frauen. Das haben Julian Assange, Edward Snowden und die Filmemacherin Laura Poitras oder der Journalist Glenn Greenwald bewiesen.
Carolin Wiedemann: Kritische Kollektivität im Netz. Anonymus, Facebook und die Kraft der Affizierung in der Kontrollgesellschaft. Transcript Verlag, 260 Seiten, 29,99 €.
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