Wenn Erdogans Chauffeur Videos dreht
Mehrheit im türkischen Parlament änderte Satzungen - die Opposition wird weiter in die Ecke gedrängt
Das Wort »Parlament« kommt bekanntlich von »parler« »sprechen«, doch die Mehrheit im türkischen Parlament scheint der Meinung zu sein, dass in diesem Parlament zu viel und auch manchmal das Falsche gesprochen werde. Jedenfalls erweckt eine Änderung der Satzung des Parlaments vom späten Donnerstagabend genau diesen Anschein. Die Fraktion, die einen Antrag stellt, darf nur noch fünf Minuten darüber reden, die anderen Fraktionen haben jeweils drei Minuten Redezeit.
Abgeordnete, die historische Persönlichkeiten oder Entscheidungen kritisieren oder die das öffentliche Vertrauen und den Glauben an die Zukunft schädigen, können mit einer Geldstrafe in Höhe eines Drittels ihres Monatseinkommens belegt werden. Die Ausdrücke sind so allgemein, dass jede kritische Bemerkung darunter fallen könnte. Doch Oppositionelle haben schon ein paar Beispiele gesammelt. Ziemlich sicher darunter fallen dürften Wörter wie »Kurdistan«, »Völkermord an den Armeniern«, »kurdische Gouvernements« oder die kurdischen Namen von Städten. Neben den Geldstrafen gibt es auch Möglichkeiten, Parlamentarier vorübergehend vom Parlament auszuschließen.
Der kurdische Abgeordnete und Verfassungsrechtler Mithat Sancak sieht in der neuen Satzung vor allem die Absicht, die Opposition daran zu hindern, mit Reden vor dem Parlament eigene Themen in der öffentlichen Diskussion zu verankern. Die großen Medien der Türkei sind fast alle längst entweder staatlich oder in der Hand von Unternehmern, die zu einem guten Teil von ihren guten Beziehungen zur Regierung leben. Doch gut gepfefferte Reden von Oppositionsabgeordneten im Parlament erreichen noch immer ein großes Publikum.
Da das staatliche Fernsehen, das die Übertragungen aus dem Parlament vornimmt, immer wieder mal Probleme damit hat, ihre Kameras anzustellen, wenn die Opposition spricht, filmen oppositionelle Abgeordnete die Reden lieber gleich selbst und verbreiten sie über soziale Netzwerke. Doch plötzlich tauchte eine Abgeordnete namens Yeliz Adaley bei Twitter auf und verbreitete in der gleichen Weise Reportagen aus dem Parlament, doch diesmal sehr kritisch gegenüber der Opposition.
Allerdings gibt es mit der Abgeordneten Yeliz Adaley ein Problem: Und zwar gibt es keine Abgeordnete mit diesem Namen. Die Opposition recherchierte und stieß darauf, dass Yeliz Adaley in Wirklichkeit ein Mann ist, nämlich der Abgeordnete Ahmet Hamdi Camli. Ehe er auf die Wahlliste der Regierungspartei kam, arbeitete Ahmet Hamdi Camli übrigens als Erdogans Chauffeur.
Die Satzungsänderungen sehen noch weitere Punkte vor. So wurde die Kleiderordnung aufgeweicht und in Zukunft soll, wer nicht rechtzeitig seinen Eid leistet, nicht als Abgeordneter gelten. Am Ableisten des Eides kann man aber auch verhindert sein, beispielsweise, weil man im Gefängnis sitzt.
In der Opposition wird die neue Satzung als »Palastregime« verspottet. Palast ist eine Anspielung auf Erdogans etwas groß geratenen Amtssitz. Die Satzung diene eben nur seinen Interessen, heißt es. Doch auch die ultranationalistische MHP des Devlet Bahceli unterstützt sie. Bahceli hat sich in der letzten Zeit gegen starke innerparteiliche Opposition durchsetzen müssen, wobei ihm die von der AKP dominierte Justiz hilft. Bei einer kleinen Kabinettsumbildung hat auch der MHP-Dissident Tugrul Türkes den Posten des Vizepremiers verloren. Der Sohn des MHP-Gründers Alparslan Türkes war ein potenzieller Rivale Bahcelis.
In einer langen Sitzung konnte die Satzungsänderung mit den Stimmen von AKP und MHP den Verfassungsausschuss des Parlaments passieren. Die Oppositionsabgeordneten werden sich demnächst viel kürzer fassen müssen und außerdem mehr an die »political correctness« nach Maßgabe von AKP und MHP halten müssen.
Unsägliches wird wohl aber auch künftig im Parlament zu hören sein. Ein Beispiel gefällig? Der Abgeordnete Ahmet Hamdi Camli lobte jüngst das Erziehungsministerium bezüglich der mehr religiösen Ausrichtung des Unterrichts mit dem Satz: »Es ist sinnlos, ein Kind in Mathematik zu unterrichten, wenn es den Djihad nicht kennt.«
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