»Nein, Vichy ist nicht Frankreich!«

Mélenchon verneint französische Mitverantwortung für Shoah und widerspricht Macron

  • Bernard Schmid
  • Lesedauer: 3 Min.

Man könnte von einer äußerst heiklen Positionierung des französischen Linkspolitikers Jean-Luc Mélenchon sprechen: Auf seinem Blog hat der Fraktionsvorsitzende der Bewegung La France insoumise (Das unbeugsame Frankreich) auf jüngste Äußerungen von Präsident Emmanuel Macron über die Beteiligung von Franzosen am Holocaust reagiert. »Niemals, in keinem Moment, haben sich die Franzosen für Mord und antisemitische Verbrechen entschieden«, schrieb Mélenchon. »Zu sagen, dass Frankreich als Volk, als Nation für dieses Verbrechen verantwortlich sei bedeutet, eine vollkommen unakzeptable essenzialistische Definition unseres Landes hinzunehmen.«

Dabei bezog sich der Linksnationalist auf Macrons Aussagen zum 75. Jahrestag der »Razzia vom Vel d’Hiv«, der größten Massenverhaftung jüdischer Menschen unter der Nazibesatzung in Frankreich. 13 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder wurden dabei durch französische Gendarmeriebeamte verhaftet und über das im Pariser Zentrum gelegene »Wintervelodrom« und das Durchgangslager Drancy als Zwischenstationen in die Vernichtungslager der Nazis gen Osten deportiert. Beamte, die dem Vichy-Regime verpflichtet waren, hatten dabei Befehle der deutschen Besatzungsmacht »übererfüllt«, indem sie auch 4000 Kinder festnahmen.

Lange Zeit hatten sich französische Regierungen nach der Befreiung von 1944 geweigert, Verantwortung für dieses Tun im Namen des Landes zu übernehmen: Allein die Besatzungsmacht sei für alle Verbrechen verantwortlich zu machen, und Frankreich sei nicht in Vichy repräsentiert worden, sondern in London, wo Charles de Gaulle Zuflucht gefunden hatte.

Als erstes Staatsoberhaupt hatte sich Präsident Jacques Chirac 1995 explizit zu einer französischen Mittäterschaft bekannt - im Gegensatz zu seinem sozialdemokratischen Vorgänger François Mitterrand. Dieser hatte selbst seine Karriere in den 1930er Jahren auf der extremen Rechten begonnen und hielt - wie bei seinem Lebensende bekannt wurde - bis in die 1990er Jahre Kontakt zum früheren hohen Vichy-Funktionär René Bousquet. Französische Selbstkritik zur Vergangenheit lehnte er ab.

Macron nun trat an diesem Punkt erkennbar in die Fußstapfen Chiracs, die übrigens auch dessen Nachfolger Nicolas Sarkozy und François Hollande nicht verlassen hatten. Er erklärte: »Es war sehr wohl Frankreich, das die Razzia organisierte«, es sei »kein einziger Deutscher« bei der Massenfestnahme direkt dabei gewesen. Und er ergänzte: »Vichy, das waren nicht alle Franzosen. Doch es war die Regierung und der Verwaltungsapparat Frankreichs.« Damit reagierte er auch auf Einwände, wonach Vichy keine Legitimation durch die französische Nation erhalten habe. Tatsächlich wurde das Regime infolge der militärischen Niederlage und der Besatzung errichtet, allerdings stimmte das Parlament der kollabierten Dritten Republik noch mehrheitlich einem Ermächtigungsgesetz für Philippe Pétain, dem Staatschef des Vichiy-Regimes zu.

Mélenchon kritisierte Macrons Argumentation. »Es liegt nicht in der Macht Macrons, allen Franzosen eine Identität als Henker zuzuschreiben«, schrieb er auf seinem Blog, und bezog sich dabei auf den französischen Widerstand: Darin habe das französische Volk in seinen Kämpfen gegen die Angreifer ja gezeigt, auf welcher Seite »es wirklich stehe«: »Nein, nein, Vichy ist nicht Frankreich!«

In Mélenchons Stellungnahme werden unterschiedliche Motive erkennbar. Zum einen bleibt Mélenchon, obwohl er parteipolitisch mit der Sozialdemokratie gebrochen hat, nach wie vor Mitterrand als einem historischen Vorbild verpflichtet. Zum zweiten begreift er Frankreich als von gegensätzlichen Interessen durchzogene Gesellschaft. Und drittens stellte er sich in eine lange Tradition der französischen Linken, die sich in apologetischer Weise auf den Patriotismus bezieht. Die kommunistische Partei wies etwa Jahrzehnte lang einen stark linksnationalistischen Tonfall auf, den sie an die Erinnerung an die Kriege gegen Europas Monarchien von 1792 sowie die Résistance knüpfte.

Letzter Punkt wurde auch deutlich, als Mélenchon im jüngsten Ringen zwischen Macron und Ex-Generalstabschef de Villiers die Kürzungen im Rüstungshaushalt kritisierte. Mélenchon prangerte zwar Macrons autoritären Führungsstil an, beklagte aber zugleich eine militärische Schwächung Frankreichs und kritisierte die Pläne zu einer stärkeren europäischen Verflechtung der Rüstungspolitik.

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