Was die Bachelorette über G20 denkt
Ohne Signalwort, ohne Eyecatcher und Teaser bleibt man online stumm
Der Text passe so, aber die Überschrift, die würde der Aktualität des Themas nicht gerecht, meinte der für mich zuständige Redakteur. Ob mir da nicht noch was einfiele, was den aktuellen Bezug auf einen Blick verdeutliche? Mein gewählter Titel gefiel mir eigentlich ganz gut, er klang ein bisschen – nun ja: literarischer. Er erklärte mir, dass man da auf SEO lugen sollte: Schlagwörter und so. Wenn man keine Dachzeile nutzt, sollte man da unbedingt Überschriften wählen, die Erkennungsworte beinhalten. So wird man heute gefunden. Aber er kenne diese Diskussionen ja, mit den Kollegen von der Kultur gäbe es auch immer Gespräche, die so ähnlich verliefen.
Es ist ja an sich naiv anzunehmen, dass man via Internet heute leicht für jedermann gefunden werden kann. So läuft das nicht. Ohne Signalwort, ohne Eyecatcher und gehashtagten Teaser bleibt man stumm. Suchmaschinenoptimierung gehört zum Handwerk. Es reicht einfach nicht etwas Schönes, Wahres und Gutes ins Netz zu tippen, das Ganze mit einer ästhetischen Überschrift zu übertiteln und dann auf Aufmerksamkeit zu hoffen. Hierzu bedarf es einer regelrechten Ökonomie: Der Aufmerksamkeitsökonomie. Wer das als digitaler Schreiberling vernachlässigt, der stirbt in Schönheit.
Früher stand halt was in der Zeitung und damit war genug Aufmerksamkeit erzeugt. Heute spielt man als Verfasser seinen eigenen Vertrieb, muss die Vermarktung in den Akt des Schreibens integrieren. Die Lesbarkeit in Zeiten des Internets kalkuliert mit Schlagworten, durchsticht den ästhetischen Anspruch mit ökonomischen Überlegungen. Zola könnte heute nicht einfach Partei für einen ungerecht inhaftierten jüdischen Hauptmann ergreifen und »Ich klage an …!« titeln – das würde ja kaum Zugriffe generieren. Wo wäre denn da das Signalwort? Nicht mal der Name #Dreyfus kommt darin vor. Der berühmte Literat müsste heute umdenken, wenn er geklickt werden wollte. Und eine großformatige Seite Brieftext, wie er seinerzeit publizierte: Das könnte er auch gleich vergessen.
Denn 4000 Zeichen gelten als optimale Länge speziell bei Online-Texten. 6000 Zeichen stemmt der bewährte Leser auch noch. Bei mehr schwindet die Aufmerksamkeit. Neil Postmann beschrieb in seinem populären Werk »Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie«, wie sich Abe Lincoln und sein Kontrahent im Wahlkampf stundenlange Dialoge lieferten und das Publikum trotzdem geduldig zuhörte. Für ein heutiges Kanzlerduell undenkbar - was zugegeben auch an den Duellanten liegen könnte. Postman stellte fest, dass heute die Aufmerksamkeitsspanne wesentlich kürzer sei. Das schrieb er bereits 1985. Mit dem Internet dürfte sich das nochmals verschoben haben.
SEO kills the aesthetic star. Wobei der aufmerksamkeitsökonomische Tod der Schönheit nur eine Auswirkung dieser ganzen Angelegenheit ist. Die andere ist, dass man immer mit einem Fuß im Clickbaiting steht, Köder auswirft, die mit dem eigentlichen Text so gut wie nichts mehr zu tun haben. Sehen Sie sich nur diesen Artikel hier an: Bislang hat dieser Artikel zur angebrachten Überschrift nichts Inhaltliches geliefert.
Erwarten Sie sich bitte auch nicht zu viel diesbezüglich, denn der Autor dieses Textes weiß nichts über eine Bachelorette. Er hat bei Twitter nach beliebten Hashtags gesucht und ist so fündig geworden, nach kurzer Recherche hat er erfahren, dass es da wohl eine Sendung auf einem Privatsender gibt, bei der sich junge Stelzböcke um die Hand einer dem Narzissmus frönenden Selbstvermarkterin bewerben. Alle sehen in diesem Format offenbar ganz gut aus, sind aber trotzdem nicht schön.
Zu G20 hatte aber natürlich auch die Akteurin eine Meinung: G20 findet sie super. G20, also 20 Galane, die einem das Gefühl geben dann doch irgendwie der ganz große Gewinn zu sein – von wegen Welcome to Hell! Sie wähnt sich im Heaven. Wie, Sie dachten bei G20 an was anderes? Achso. Das ist aber wahrlich nicht meine Schuld. SEO wars! Hätten Sie den Text hier sonst gefunden?
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