Fensterl-Bahnhof wird Geschichte
Niedersachsen: Vor Jahresfrist wurden in Bentheim die Bahnsteigtüren zubetoniert - im Namen der Barrierefreiheit
Weithin bekannt geworden wäre das 16 000 Einwohner zählende Bad Bentheim im äußersten Westen Niedersachsen, nahe den Grenzen zu Nordrhein-Westfalen und zu den Niederlanden, gewiss lieber durch seine hochmittelalterliche Burg. Oder durch die »Bentheimer Moppen«, spezielle Weihnachtskekse, bei denen nicht Anis oder Koriander den Geschmack dominieren, sondern Kümmel.
Doch weder mit dieser Leckerei noch mit dem historischen Gemäuer erreichte der Kurort im August 2016 internationale Aufmerksamkeit, sondern mit Videoclips wie diesem: Eine Reisende, sie hat es offensichtlich eilig, will das Bahnhofsgebäude verlassen, möchte zum Zug. Doch die Tür zum Bahnsteig lässt sich nicht öffnen, stößt gegen irgend etwas, das trotz heftigen Rüttelns nicht weichen will. Die Abfahrt des Zuges naht. Um ihn nicht zu verpassen, klettert die Frau kurz entschlossen aus einem Fenster neben der versperrten Tür auf den Bahnsteig, nebst Gepäck. Geschafft!
Den gleichen Kletterweg nahmen in der folgenden Zeit noch viele Reisende. Ein Stuhl, vors geöffnete Fenster gestellt, erleichterte den Ausstieg. Andere Eisenbahnkunden, die etwas mehr Zeit und Geduld hatten, verließen den Bahnhof angesichts der verbarrikadierten Tür wieder, stiefelten um das 1865 errichtete Gebäude herum und gelangten so zu den Waggons. Und das alles wegen einer Fehlplanung, die es in der Fernsehsendung »Extra 3« in die Rubrik »Der reale Irrsinn« schaffte. Auch Medien außerhalb Deutschlands und Internetseiten nahmen das Thema auf, bedacht mit Kommentaren wie »sehr lustig«, »wer zum Zug will, muss fensterln« oder »ein wahrer Schildbürgerstreich«.
Verübt hatte diesen die Deutsche Bahn, als sie Rollstuhl-, Kinderwagen- und Rollatornutzern die Reise erleichtern wollte und dazu den Bahnsteig um 40 Zentimeter erhöhte. Zu den Zügen ging es nun barrierefrei, doch nun war eine neue Barriere entstanden. Denn der erhöhte Bahnsteig ragt nun über das untere Ende der Türen, infolgedessen ließen sie sich nicht mehr öffnen.
»Wer hat so einen Blödsinn zu verantworten - das weiß man doch vorher?!« Solche und ähnliche Kommentare begleiteten fortan die Diskussion um die Türblockade und den Weg durchs Fenster. Die Antwort gab das große Bauschild vor dem Bahnhof, auf dem die Deutsche Bahn verkündet: Sie sei Bauherr der Bahnsteige, habe deren Projektleitung inne und sei auch für die Planung verantwortlich.
Doch die Bahn betreibt nicht auch den Bahnhof - das tut die Bentheimer Eisenbahn AG. Deren Chef kommentierte das Debakel seinerzeit: »Da müssen wir durch!« Den Weg durch die Fenster sah die Deutsche Bahn aber gar nicht gern. Sie warnte vor der Kletterei, denn diese sei doch unfallträchtig.
Seit Kurzem wird nun wieder gearbeitet am Bad Bentheimer Bahnhof - nun soll er wirklich in alle Richtungen barrierefrei werden, er wird völlig umgebaut. Die Eisenbahngesellschaft will in ihm ein Reisebüro einrichten, auch eine Bäckerei werden die Kunden dort vorfinden. Probleme bereitet zurzeit noch die Installation des Aufzugs zu den Bahnsteigen, dadurch verzögert sich das Ganze.
Vollendet sei der Um- und Ausbau voraussichtlich im Mai 2018, hoffen die Verantwortlichen. Doch auch weit darüber hinaus werden der Bahnhof Bad Bentheim und seine Fenster wohl als ein ganz besonderes »Markenzeichen« der niedersächsischen Kurstadt vielen Menschen im Gedächtnis bleiben.
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