Gesicht zeigen im Zeitalter der Gesichtserkennung
Der Ausbau von Überwachung wie jüngst am Berliner Südkreuz sorgt nicht für mehr Sicherheit. Solche Maßnahmen sind allenfalls als Nachsorge zu gebrauchen
Die letzten 15 Jahre müssten eigentlich eine Ära gewesen sein, in der die Kriminalität, der Terrorismus und der Betrug abgenommen haben. Ja, eigentlich müsste es sogar als das Zeitalter der Abschaffung solcher Auswüchse abonniert sein. Seit mindestens anderthalb Dekaden erklärt man den Bürgerinnen und Bürgern nun, dass der sukzessive Ausbau der Überwachung zu mehr Sicherheit führen würde. Die Gesichtserkennung am Berliner Südkreuz, die neulich ihren Betrieb aufnahm, wurde mit genau dieser These von der Bundespolizei verteidigt. So könne es nämlich gelingen, »Straftaten und Gefahrensituationen im Vorfeld zu erkennen«.
Die Gesichtserkennung ist aber nun gar kein aktuelles Kapitel in dieser vermeintlichen Abschaffungsgeschichte der Kriminalität und des Terrorismus – sie ist vielmehr eine von vielen Maßnahmen, die gar nichts vereiteln. Die Überwachung ist an ihrem Anspruch, die Gesellschaft a priori sicherer zu machen, auf ganzer Linie gescheitert. Sie kommt als Vorsorge daher, ist aber bestenfalls für die Nachsorge zu gebrauchen. Dass Überwachung schon im Vorfeld »Gefahr erkannt, Gefahr gebannt« spielt, kann man getrost ausschließen. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen das ja auch: Passiert ist immer wieder allerlei. Wenn das gefilmt wurde, konnte man hin und wieder Aufklärung betreiben. Dann war es aber schon zu spät und die Justiz pflegte nachsorgerisch, wo die Überwachungsfreaks Vorsorgequalitäten versprachen.
Der Überwachungsstaat ist eigentlich ein Rekonstruktionsstaat. Er überwacht nicht um Anschläge zu verhindern, er überwacht um sie justiziabel zu machen. Dass seine Installation aus Gründen der Sicherheit geschieht, das ist nur das Argument für die Öffentlichkeit. Es wirkt ja nicht sonderlich attraktiv, wenn man sagt, dass man Kameras aufstelle, Gesichtserkennung zulasse und Videoüberwachungsverbesserungsgesetze formuliere, damit später die Rechtsgelehrten etwas haben, um ihre Arbeit vereinfacht auszuführen. Den Skeptischen muss man da schon mehr geben: Das große Versprechen der Wiederherstellung der Sicherheit.
Die haben aber nur Ermittler, Staatsanwälte und Richter. Zumindest theoretisch. Aufnahmen aus öffentlichen wie privaten Kameras, die Aushebelung des Datenschutzes und die Ausstattung öffentlicher Plätze mit Software, die Gesichter scannt und einordnet, führen dazu, dass Kriminaler etwas haben, um daraus einen Fall für Juristen zu konstruieren. Und diese Juristen haben insofern Rechtssicherheit, weil sie sich in manchen Fällen nicht auf Indizien, sondern auf Aufzeichnungen stützen können. Insofern ist die Überwachung – wenn überhaupt – ein Beitrag zur Rechtssicherheit. Nicht aber zur Sicherheit im klassischen Sinne.
Das infamste Vorgehen beim Thema Überwachung ist, dass sich die staatlichen Behörden als Vorsorger aufspielen, die sie gar nicht sind. Man rüstet den öffentlichen Raum mit Technologie auf, stattet diese Maßnahme mit einer Rhetorik von Prophylaxe aus und verabschiedet sich inhaltlich dann doch nur in die Rolle des Kuratoren. Das Versprechen der Sicherheit vorher ist der PR-Kniff, mit dem man die Errungenschaften moderner Überwachungstechnik auf Kosten der Steuerzahler installiert. Objektive und Software wollen schließlich verkauft werden. Milliarden sind da zu verdienen. Unsere Sicherheit wird uns das doch wohl wert sein. Dass schlussendlich nur einige lausige Beweise für ein Gerichtsverfahren oder einen Untersuchungsausschuss rumkommen, wird da kaum noch kritisiert.
Im Grunde bleibt sich der moderne Staat treu. Seine Notabeln erklären gerne was vom vorsorgenden Sozialstaat, aber am Ende kommt auch nur nachsorgerisches Krisenmanagement heraus. Man will präventiv gewisse Krisen wegreformieren und landet doch immer nur in einer vom Sachzwang diktierten Notstandsverwaltung. Vorsorge versprechen und Nachsorge meinen: Das ist modernes Staatswesen heute. Eben auch bei der Sicherheitspolitik.
Die einzige Vorsorge, die noch immer in der Emotionalität der Sache liegt, ist die, dass man Kritiker an diesem Konzept gleich als potenzielle Gefährder verbucht, die was im Schilde führen könnten. Stimmen Sie diesem Text also nicht zu, lieber Leser, zeigen Sie nicht Gesicht im Zeitalter der Gesichtserkennung. Denn merken Sie sich: Sie sind der einzige Terrorist, den die Überwacher vorsorgerisch kriegen können.
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