Hoffen und Bangen
Volker Wagner hat eine Geschichte der Berliner Juden verfasst
Seit dem 8. Jahrhundert hatten sich Juden in Deutschland angesiedelt, in Spandau lebten und wirkten sie nachweislich ab Beginn des 13. Jahrhunderts. Doch nachbarschaftliches Einvernehmen mit den Christen war nicht einfach, im Gegenteil. Für alles Unglück, etwa die Pest, wurden Juden verantwortlich gemacht und zeitweise gewaltsam auch aus Berlin vertrieben. Es gab immer wieder Pogrome. Die Andersgläubigen wurden der rituellen Kindstötung, der Hostienschändung und aller möglichen Verbrechen beschuldigt. So obskur und abstrus die Behauptungen auch waren, sie wurden gern geglaubt.
Da Christen keine Zinsgeschäfte tätigen konnten, hielten sich die Herrscher »Hofjuden«, die ihnen mit Geld- und Kreditgeschäften nützlich oder als Kämmerer zu Diensten sein sollten. Aber auch von den Potentaten wurden sie argwöhnisch beäugt und waren zudem stets deren Launen und Willkür ausgesetzt. Die Juden waren gezwungen, zwischen Selbstbehauptung und Anpassung zu lavieren. Als 1571 der verschwenderische und daher hoch verschuldete Brandenburger Kurfürst Joachim II. starb, wurde sein »Hofjude« und Münzmeister Lippold Ben Chluchim - nachdem eine Anklage wegen Unterschlagung gescheitert war - der Zauberei und des Mordes beschuldigt. Lippold wurde gerädert und gevierteilt, sein Kopf auf einer Eisenstange am Alexanderplatz aufgespießt und die anderen Körperteile in der Stadt verteilt. Anschließend mussten alle Juden Stadt und Land verlassen und durften erst 100 Jahre später wieder zurückkehren.
Geduldet wurden in Berlin zumeist nur die »nützlichen«, wohlhabenden Juden, die die ihnen aufgebürdeten höheren Steuern auch zahlen konnten. Sie gehörten schon bald zur geistigen und künstlerischen Elite der Stadt und machten im Zeitalter der Aufklärung einen beträchtlichen Teil des Berliner Bürgertums aus. Erst mit den Stein-Hardenbergschen Reformen wurden sie 1812 zu weitgehend gleichberechtigen Staatsbürgern in Preußen. Trotz Emanzipation erlebten und erlitten sie immer wieder antisemitische Anwürfe und Angriffe. Vor 150 Jahren wurde die Synagoge in der Oranienburger Straße errichtet - Zeichen jüdischen Selbstbewusstseins und jüdischer Selbstbehauptung.
Nach der russischen Oktoberrevolution 1917 zog es viele jüdische Emigranten ins liberale Berlin: die wohlhabenden Exilanten nach Charlottenburg, die vielen verarmten osteuropäischen Juden zumeist ins Scheunenviertel. Die eingewanderten Juden bereicherten die »Goldenen Zwanziger« in Berlin. Dank der vielen talentierten jüdischen Künstler und Literaten wurde die Stadt an der Spree zur Kulturhauptstadt der Welt. Allerdings blieb das nicht lange so. Vom militanten Antisemitismus der Faschisten eliminiert, erwachte jüdisches Leben in Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg nur ganz langsam und hat sich noch immer nicht gänzlich erholt.
Volker Wagner erzählt eine traurige wie erhebende Geschichte, schildert das jüdische Leben in Berlin von seinen Anfängen an. Wie gewohnt vom Elsengold Verlag sind die einzelnen Kapitel schön illustriert. Neben der Darstellung der geschichtlichen Ereignisse werden auch einflussreiche jüdische Bürger porträtiert, beginnend mit Michael von Derenburg, dem ersten »Hofjuden« von Kurfürst Joachim II., über den großen Aufklärer Moses Mendelssohn bis hin zu Rolf Eden, dem selbst ernannten Playboy und Discokönig des Nachkriegsberlins.
Volker Wagner: Geschichte der Berliner Juden. Elsengold. 168 S. geb., 14,95 €.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.