Der Sturm auf Kitas
Nur 1000 freie Plätze / Drei Viertel nutzt nicht verbindliche Vergabe-Software
»Wer auf der Suche nach einem Kitaplatz 2018 ist, sollte nun handeln«, schreibt das Online-Marketing-Unternehmen Fabulabs GmbH in seinem Newsletter. Und gibt Tipps, wie verzweifelte Eltern doch noch einen der begehrten Plätze ergattern können. Tipp Nummer eins: »Wartelistenplätze sind wichtig. Entspannte Eltern tragen sich auf 5 Wartelisten ein, Hysteriker schonmal auf 50.« Tipp Nummer fünf: »Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft.« Das Unternehmen rät, zum Sommerfest einen selbst gebackenen Kuchen vorbei zu bringen, um sich als »Bewerber wieder in Erinnerung« zu bringen. Das Ganze solle möglichst aber nicht nach Bestechung aussehen.
Wartelisten? Da war doch was? Richtig. Im August 2016 verpflichtete Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) die Träger, an einem 2015 eingeführten IT-System teilzunehmen, das die Namen der sich bewerbenden Kinder online und zentral sammelt. Scheeres hatte damals gesagt: »Die Wartelisten ärgern mich. Die verunsichern die Eltern. Ich kenne das ja selber von früher. Da treffen sich alle Eltern in den Kitas wieder, weil sie überall hingeschickt werden.« Das System sollte zwei Vorteile haben: Erstens den Bezirken und damit dem Senat genauer sagen, welchen Platzbedarf es gibt. Damit ein Kind, dass auf 30 Wartelisten steht, bei der Bedarfsanalyse eben nicht 30 Mal, sondern nur einmal gezählt wird. Zweitens den Aufwand der Eltern in der Suche nach einem Betreuungsplatz verringern, weil die Kitas sehen, wenn ein Kind von ihrer Liste den Platz andernorts eingelöst hat.
Von den Wartelisten-Tipps der Fabulabs GmbH ist die Bildungsverwaltung denn auch nicht begeistert. »Wir halten das für überhaupt nicht notwendig«, sagt Sprecher Thorsten Metter.
Doch wie sieht die Realität aus, ein Jahr nachdem das IT-System rechtsverbindlich wurde? Eine Anfrage bei der Bildungsverwaltung ergab, dass noch nicht einmal jede vierte Kita teilnimmt: Von aktuell 2510 Einrichtungen benutzen gerade einmal 568 das System. Und: »Es liegen keine Zahlen über weiterhin bestehende Wartelisten vor«, so Sprecherin Iris Brennberger.
Patrick Konrad, Geschäftsführer von Fabulabs, verteidigt sich. Er hat seine eigene Statistik vorzuweisen. Er habe über 1600 Kitas angefragt, 161 hätten ihm geantwortet. 84 Prozent führten immer noch eine Warteliste. Doch nicht nur sein berufliches Interesse habe ihm die Notwenigkeit Wartelisten-Beratung verdeutlicht: »Ich bin selbst Vater und habe gemerkt, dass das System katastrophal ist.« Der in Friedrichshain lebende junge Vater hat den Namen seines Kindes auf 35 Wartelisten geschrieben. Lediglich in fünf Fällen wurde er ins IT-System aufgenommen und musste der Datenschutzabfrage zustimmen.
Genau hier könnte eins der Probleme liegen: Denn Kitas sind zwar rechtlich zur die Meldung eines ernsthaften Bewerbers mittels des IT-Systems verpflichtet, Eltern sind aber nicht dazu verpflichtet, daran teilzunehmen – einen Anspruch auf den Platz haben sie trotzdem. Wie viele Eltern sich aus Datenschutz- oder anderen Gründen der Aufnahme ins System verweigern, auch dazu hat die Senatsverwaltung keine »belastbaren Zahlen«. Doch dass es sie gibt, ist klar. Die Kitas müssen nun also zwangsläufig zwei Listen statt einer führen.
Wie soll es weitergehen? Der Senat scheint keinen besonderen Handlungsbedarf zu erkennen. »Es erfolgt eine laufende Beobachtung der Entwicklung«, heißt es lapidar. IT-Schulungen würden angeboten und Träger auf ihre Verpflichtung hingewiesen. Gleichzeitig spitzt sich die Kitaplatz Situation zu. Im Juli gab es laut Verwaltung stadtweit lediglich 1000 unbelegte Plätze. »Das ist nicht viel«, gibt die Bildungsverwaltung zu. Zum Vergleich: Im März hatte es noch 6000 freie Plätze gegeben. Etwas weniger dramatisch erscheint die Zahl, wenn man die Abgänge der Schulanfänger in drei Wochen hinzuzählt: Abzüglich der zurückgestellten Kinder würden dann rund 21 000 Plätze frei werden – das allerdings schätzt die Verwaltung nur.
Doch diese Plätze sind nicht in jedem Bezirk zu finden: Im Bedarfsatlas vom März hatte die Bildungsverwaltung ausgewiesen, dass aktuell 57 von 150 Stadtteilen gar keine Plätze haben, gleichzeitig aber einen steigenden Bedarf. Die Stadtteile dieser »Kategorie 1« sind über ganz Berlin verteilt: Allein in Neukölln haben sechs von zehn Stadtteilen keine Plätze mehr zu vergeben, in Marzahn-Hellersdorf sind es sogar sechs von neun.
Im April hatte der Bezirk Friedrichshain Kreuzberg mitgeteilt, dass er wegen des immensen Fachkräftemangels derzeit keine weiteren Kinder aufnehmen könne. Auf Nachfrage sagt die Bildungsverwaltung: »In einzelnen Bezirken war die Situation tatsächlich schwierig.«
Trotzdem gibt es laut Verwaltungsgericht keine Klagen, obwohl ein Präzedenzfall jedes Jahr befürchtet wird. Allerdings gilt für Kitas anders als für Grundschulen nicht das Wohnortsprinzip. Findet das Kind an einem beliebigen anderen Ort einen Kitaplatz, wäre eine Klage hinfällig.
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