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Historischer Richterspruch in Delhi

Oberstes Gericht erklärt Tradition der muslimischem Sofortscheidung für nicht verfassungskonform

  • Thomas Berger
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein einziges Wort reicht: Talaq, was soviel bedeutet wie: »Ich verstoße dich.« Fällt es dreimal hintereinander, gesprochen oder geschrieben, hat sich der Mann von seiner Ehefrau getrennt. Obwohl sich im Koran kein direkter Bezug findet, ist die Praxis in traditionellen islamischen Kreisen stark verbreitet. Auch in Indien, wo entgegen dem ansonsten oft modernen Familienrecht bislang noch immer getrennt nach den einzelnen Religionsgemeinschaften deren eigene Regularien Gültigkeit haben.

Beziehungen im digitalen Zeitalter per Mail, SMS oder WhatsApp zu beenden, ist keineswegs nur eine Unsitte, die unter jüngeren Leuten westlicher Gesellschaften grassiert. Wenn allerdings in Staaten wie Indien ein muslimischer Mann auf solche Weise eine mitunter seit Jahrzehnten bestehende Ehe von einem auf den anderen Moment beendet und dies nach bisheriger Rechtsprechung auch noch juristisch vollkommen gedeckt, dann hat das schwerwiegende Folgen. Nicht nur, weil die Ehefrau in den meisten Fällen ökonomisch extrem von ihm abhängig ist und in Existenznot gerät. Es geht auch um das Recht auf die Kinder und anderes.

Anderthalb Jahre ist es her, seit Shayara Bano am 23. Februar 2016 Indiens oberste Richter in ihrem Scheidungsfall mit einer Klage bemühte. Die Trennung von ihrem Mann lag da gerade fünf Monate zurück. Mitte Oktober 2015, als sie gerade ihre Eltern besuchte, hatte er ihr einen Brief geschickt. Einziger Inhalt: Der dreifache Talaq, die sofortige Scheidung. Die 36-Jährige, die einen Uni-Abschluss in Soziologie hat, fiel in ein tiefes Loch, hatte monatelang mit Depressionen zu kämpfen.

Nicht zuletzt, weil ihr Ex-Mann Rizwan Ahmed, ein Immobilienhändler, ihr auch den Zugang zu ihren Söhnen Irfan (13) und Muskan (11) verwehrte. Damit habe er das Recht auf seiner Seite, musste sich Shayara Bano auch von einem muslimischen Geistlichen anhören. Doch sie gab nicht auf, wandte sich an den Supreme Court. Mit drei zu zwei Stimmen urteilten die Richter nun, dass die Praxis nicht mit der Verfassung zu vereinbaren sei, keine echten Wurzeln im Islam habe und auch der Gleichberechtigung widerspreche.

Erst vor wenigen Tagen hat Indien voller Stolz und Selbstbewusstsein 70 Jahre Unabhängigkeit gefeiert. Für die muslimischen Frauen mutet das Urteil wie ein Geschenk zum Jubiläum an - viele Jahre haben Generationen von ihnen mit dieser Unsicherheit leben müssen. Kommentatoren bewerten den Richterspruch denn auch als Sieg in Sachen Frauenrechte, einen Schritt zu weiterer Modernisierung des im Alltagsleben noch immer in mindestens zwei Welten gespaltenen Landes. Doch er hat auch politische Implikationen.

Schon jubilieren die regierenden Hindunationalisten der Bharatiya Janata Party (BJP) von Premier Narendra Modi. Seit Jahren streitet sie für eine Abschaffung der Sondergesetzgebung für religiöse Minderheiten, für einen sogenannten Uniform Civil Code, also ein einheitliches Zivilrecht für alle Bürger. Und damit, so ihre Sichtweise, müssten sich die anderen vorrangig an den Hindus orientieren, die nun einmal mit über 80 Prozent die Mehrheit stellen.

Genau solche Untertöne bereiten in Minderheitenkreisen, selbst abseits strenger Traditionsverwurzelung, Sorge. Und sie waren einer der Gründe, warum sich linke und liberale Kräfte zumeist auf die Seite der Minderheiten für einen Erhalt des Status quo schlugen - obwohl auch ihnen Aspekte wie der dreifache Talaq schwer im Magen liegen. Gerade der jahrzehntelang dominierenden Kongresspartei (INC) ging es zugespitzt am Ende immer darum, die Millionen muslimischen Wähler nicht zu »irritieren«, indem man etwa die Sondergesetze infrage stellte.

Chefrichter JS Khehar ist der erste Sikh, der den Obersten Gerichtshof anführt, und steht in wenigen Tagen vor seiner Pensionierung. Er und sein Kollege Abdul Nazeer, der einzige Muslim in der fünfköpfigen Kammer und erst dieses Jahr ins höchste Gremium berufen, hatten in einem Minderheitenvotum die Praxis zunächst nur für sechs Monate außer Kraft setzen wollen. So lange sollte die Regierung Zeit bekommen, ein Gesetz zur klaren Regelung auszuarbeiten. Das sahen die drei übrigen Richter anders. Für Uday Umesh Lalith (Hindu), Rohinton Fali Nariman (Parse) und Kurian Joseph (Christ) war die Sachlage eindeutig: Die Sofortscheidung sei in keiner Weise zu rechtfertigen. Dass sie sich durchgesetzt haben, freut nicht nur Shayara Bano, die den Stein ins Rollen brachte, sondern auch vier weitere Klägerinnen im Alter von 28 bis 31 Jahren, deren Fälle mit ihrem gebündelt worden waren. Und all die betroffenen Frauen, die sich eine Anrufung der staatlichen Justiz nie getraut haben.

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