Nahkampf auf dem Asphalt

Die Sperrung der Potsdamer Brücke ist symptomatisch für die Stimmung auf den Straßen

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Vollsperrung der Potsdamer Brücke für den motorisierten Verkehr sorgt für Diskussionen. »Sowohl Innensenator Andreas Geisel (SPD) als auch Verkehrssenatorin Regine Günther (parteilos, für Grüne) müssten sich darum kümmern, dass Busfahrgäste nicht die Leidtragenden der Undiszipliniertheit von Autofahrern sind«, sagt Jens Wieseke, Sprecher des Fahrgastverbands IGEB. Bis Mittwoch konnten noch die stark genutzten Buslinien M48 und M85 die Brückenbaustelle passieren. Doch weil Autofahrer sich nicht an das eindeutig ausgeschilderte Durchfahrverbot hielten, sah die Verkehrsverwaltung »keine andere Möglichkeit als die Vollsperrung«, wie sie mitteilt. Die beiden Linien sind nun unterbrochen. Fahrgäste müssen ersatzweise drei Stationen mit der U2 fahren.

»Mir ist kein Fall aus meiner mehr als 20-jährigen Karriere bekannt, wo es so viele Disziplinarverstöße gab«, sagt Jörg Becker, Verkehrsexperte des Autoclubs ADAC Berlin-Brandenburg. Gutheißen wolle er das Verhalten der Autofahrer keineswegs, allerdings sieht er auch eine Mitschuld des Senats. »Es gab zu wenig erläuternde Öffentlichkeitsarbeit über den Sinn der Maßnahme«, findet Becker. »Solange die Verkehrspolitik des Senats weiter polarisiert, wird es auch keine positiven Auswirkungen auf die Verkehrsmoral geben«, erklärt der Autolobbyist.

Schwere Unfälle beim Carsharing

Erst am vergangenen Samstag starb ein 18-Jähriger, nachdem er bei einem Verkehrsunfall in Mitte von einem Smart des Carsharing-Anbieters Car2Go überfahren wurde. Wie sich herausstellte, saß ein gleichaltriger Freund hinter dem Steuer des Wagens.

Regelmäßig meldet die Polizei schwere Unfälle von Autos von Carsharing-Anbietern. Ob deren Nutzer öfter Unfälle verursachen als andere Autofahrer, konnte die Polizei nicht sagen. »Das wird bei uns nicht erfasst«, sagte eine Sprecherin. Mieten kann die Leihwagen fast jeder, der mindestens ein Jahr einen Führerschein besitzt. Das kann auch junge Fahranfänger anlocken, die sonst kaum an ein Auto kommen.

Car2Go, eine Tochterfirma des Autokonzerns Daimler, äußert sich zu dem Thema nur sehr zurückhaltend. »Wir stellen bei den Unfallzahlen keine besondere Häufigkeit fest. Es gibt da keine Auffälligkeiten«, sagt ein Sprecher.

Jörg Becker vom Autoclub ADAC Berlin-Brandenburg schlägt vor, dass Fahrer unter 25 Jahren zunächst ein Fahrsicherheitstraining absolvieren müssen, bevor sie als Nutzer zugelassen werden. nic/dpa

»Es gibt endlich kein Chaos mehr«, sagt Polizeisprecher Thomas Neuendorf. Die Polizei hätte es nach seinen Worten personell nicht leisten können, die Stelle 24 Stunden am Tag mit mehreren Beamten zu überwachen. »Als wir mit Beamten vor Ort waren, haben wir innerhalb kurzer Zeit 60 Verwarnungen ausgesprochen«, berichtet Neuendorf. Das unerlaubte Benutzen einer Busspur kostet aber auch nur 15 Euro - für viele Autofahrer offenbar wenig abschreckend. »Allerdings hat das für die Verkehrssicherheit auch nichts gebracht, weil wir die Fahrer dort nicht abhalten könnten, regelwidrig die Brücke zu nutzen«, erklärt Neuendorf. Generell sei es für Kollegen häufig sehr schwierig, Autofahrer daran zu hindern, in wegen Einsätzen gesperrte Straßen einzufahren.

»Wir haben uns eigentlich im Koalitionsvertrag darüber verständigt, dass die Straßenverkehrskontrollen verstärkt werden sollen«, sagt Grünen-Verkehrsexperte Harald Moritz. »Da sind wir wohl noch nicht so weit«, räumt er ein. Es bleibe eine dringliche Aufgabe, die Personalsituation bei Polizei und Ordnungsämtern zu verbessern, um durch entsprechende Kontrollen Regelverstöße im Verkehr zu ahnden. In Friedrichshain-Kreuzberg, so rechnete der dortige Ordnungsamtsleiter Joachim Wenz unlängst vor, könne er rechnerisch nur einmal alle zwei Wochen für wenige Stunden Mitarbeiter in die Oranienstraße schicken, um dort die vielen Falschparker zu verwarnen.

»Im Autoland Deutschland tut sich die Politik extrem schwer damit, die Verkehrsmoral in den Griff zu bekommen«, sagt Heinrich Strößenreuther, Initiator des Fahrrad-Volksentscheids. Er beklagt, dass in vielen Bereichen die Übertretung von Verkehrsregeln einfach hingenommen werde. So werde das für Radler oft gefährliche Parken von Lieferfahrzeugen in der zweiten Reihe kaum geahndet.

»Eine kreative Auslegung der Straßenverkehrsordnung ist in Berlin geradezu selbstverständlich geworden«, beobachtet Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer. Viele Verkehrsteilnehmer träfen eine Art Güterabwägung: Wie hoch ist die Chance, erwischt zu werden, und wie hoch die Strafe, um im Gegenzug vielleicht fünf Minuten schneller am Ziel zu sein? »Die Kontrolldichte wird sich realistisch betrachtet kaum wesentlich erhöhen lassen«, sagt Brockmann. Er plädiert für eine deutliche Erhöhung der Bußgelder. »Die Missachtung der Umweltzone ist wesentlich teurer als das verkehrsgefährdende Verhalten an der Potsdamer Brücke«, so der Unfallforscher.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.