Krankenpfleger könnte 84 weitere Patienten getötet haben

Nach Veröffentlichung von Ermittlungsergebnissen plant Staatsanwaltschaft ein weiteres Strafverfahren gegen den bereits verurteilten Pfleger

  • Hagen Jung
  • Lesedauer: 3 Min.

Alarm auf der Intensivstation - ein Herzstillstand! Immer wieder ist Niels H. herbeigeeilt und hatte vorgeblich versucht, Atem und Kreislauf von kollabierten Patienten wieder in Gang zu bringen. Oft konnten die Ärzte nur noch den Tod feststellen. Was die Mediziner nicht ahnten: Es war der Pfleger selbst, der den Tod der Kranken durch die Injektion einer Überdosis des Medikaments Gilurytmal herbeigeführt hatte. H. Ziel dabei war - so wird sich im Gerichtsverfahren Jahre später herausstellen - sich als »Retter« hervorzutun.

Bis heute lässt sich nicht sagen, wie oft H. zwischen 2000 und 2005 an Kliniken in den niedersächsischen Städten Oldenburg und Delmenhorst auf diese Weise Versuche unternahm, Patienten zu töten. Mindestens jedoch 86 ihm anvertraute Patienten soll er durch sein Handeln umgebracht haben, hieß es am Montag auf einer Pressekonferenz von Polizei und Staatsanwaltschaft in Oldenburg.

Auch nachdem H. 2015 wegen zweifachen Mordes, zwei Mordversuchen und Körperverletzungen zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, hatte die Sonderkommission (Soko) »Kardio« weiter ermittelt. In 134 Verdachtsfällen sind verstorbene Krankenhauspatienten aus ihren Gräbern geholt und untersucht worden. Rechtsmediziner prüften, ob in den Leichen Spuren der Medikamente vorhanden waren, mit denen der Pfleger die Patienten tötete. Fazit der Ermittlungen: 84 weitere Mordtaten soll H. begangen haben. Viele dieser Taten soll H. inzwischen gestanden haben.

Doch es könnten durchaus noch mehr Opfer sein. Man müsse annehmen, »dass die wirkliche Dimension um ein vielfaches schlimmer sein dürfte«, sagte Oldenburgs Polizeipräsident Johann Kühme. Zum einen, weil seinerzeit verstorbene Patienten noch vor dem Verdacht gegen H. feuerbestattet wurden. Zum anderen, weil bei mehreren exhumierten Menschen die toxikologischen Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind.

Möglicherweise handelt es sich beim Fall H. um die größte Mordserie der deutschen Kriminalgeschichte. Der Fleischer Carl Großmann stand in den 1920er Jahren in Verdacht, in Berlin zwischen 25 und 100 Frauen und Mädchen umgebracht zu haben, aber das wurde nie geklärt. Fritz Haarmann, der im selben Jahrzehnt in Hannover junge Männer umbrachte, wurde wegen 24 Taten hingerichtet.

Die 84 neuen Tatvorwürfe gegen Nils H. werden nun in einem weiteren Strafverfahren erörtert. Wann die Hauptverhandlung stattfindet, steht nicht fest, voraussichtlich erst 2018. Am Ende, so viel ist sicher, wird die lebenslange Freiheitsstrafe bestätigt. Ebenso die besondere Schwere der Schuld, die eine Freilassung nach 15 Jahren verbietet.

Warum dann überhaupt noch ein Prozess? Das schulde man den Angehörigen der Opfer, gab Oberstaatsanwalt Thomas Sander zu bedenken. Auch könne in dem neuen Verfahren aufgearbeitet werden, inwieweit die Untätigkeit von Krankenhauspersonal »das verheerende Wirken H.s erst ermöglicht« habe.

Diese Frage ist bereits Gegenstand eines Verfahrens gegen sechs Bedienstete des Delmenhorster Klinikums, in dem H. wirkte. Allerdings ist bei der Justiz noch strittig, ob ein Hauptverfahren gegen alle oder nur drei der Beschuldigten eröffnet wird. Was das Personal im Krankenhaus in Oldenburg betrifft, so der Staatsanwalt, »stehen wir noch ganz am Anfang«.

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