Adalet - Gerechtigkeit ist die CHP-Losung

Die türkische Oppositionspartei will die Unzufriedenen sammeln / Viertägiger Kongress beendet

  • Jan Keetman
  • Lesedauer: 3 Min.

»Wir machen einen Gerechtigkeitskongress - denn wir wollen leben wie ein Baum alleine und frei, wie ein Wald in Brüderlichkeit.« Mit diesen Worten des kommunistischen Dichters Nazim Hikmet hatte Kemal Kilicdaroglu dem am Dienstag beendeten »Gerechtigkeitskongress« in Canakkale die Richtung vorgegeben.

Nach dem Erfolg seines Marsches für Gerechtigkeit von Ankara nach Istanbul hat der Vorsitzende der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) »Gerechtigkeit« offenbar auch als programmatische Losung der Opposition gewählt. Zur Parlaments- und Präsidentschaftswahl 2019 könnten sich hinter ihr die Unzufriedenen aus manchen Teilen der Gesellschaft sammeln.

Auf verschiedenen Foren wurde während des viertägigen Kongresses über all die Gebiete gesprochen, auf denen es mit der Gerechtigkeit hapert: Gerechtigkeit vor Gericht, Gerechtigkeit bei Wahlen, Gerechtigkeit beim Einkommen, Gerechtigkeit im Staat, Gerechtigkeit bei der Ausbildung usw. Selbst Gerechtigkeit in der Religion wurde diskutiert.

Gekommen waren ungefähr 10.000 Menschen, darunter nicht nur Stammwähler der CHP, wie etwa der Altlinke und pensionierte Lehrer Ramazan Cavdar. Er erinnert daran, dass es auch früher schon Ungerechtigkeit gab und die CHP damit leben konnte. Nun hat es seine Tochter getroffen. Sie ist Physikerin, spricht vier Sprachen, arbeitete an der Technischen Universität in Istanbul. Doch dann unterschrieb sie einen Friedensappell, wurde entlassen und ausstehender Lohn wurde beschlagnahmt. Nun lebt sie in Großbritannien und kann nicht mehr in die Türkei zurück.

Es fehlte nicht an berechtigter Kritik am Regierungslager. Zum Beispiel sagte Professor Ersin Kolaycioglu auf dem Panel Gerechtigkeit bei Wahlen, dass man nicht von einer freien Entscheidung der Wähler sprechen könne, wenn es keine Freiheit der Information gebe. Ein Zuhörer wandte ein, die Opposition hätte beim Referendum ja offenbar gewonnen, aber die Hohe Wahlkommission habe die Verfälschung des Ergebnisses zugelassen. Was helfe da die beste Opposition?

Die Ägäisküste, an der Canakkale liegt, ist eine Hochburg der CHP, und es gibt einen historischen Anknüpfungspunkt, auf den Kilicdaroglu bei der Eröffnung am Samstag ausführlich einging: Mustafa Kemal Atatürk, der sowohl die laizistische Republik wie die CHP gegründet hat, tat sich im Ersten Weltkrieg bei Canakkale, genauer gesagt gegenüber auf der anderen Seite des Hellesponts in der Schlacht von Galipoli, als Kriegsheld hervor.

Die Erinnerung an Atatürk eint im Moment wohl wieder mehr Menschen in der Türkei, aber keineswegs alle. Im Andenken an Atatürk findet sich viel Nostalgie, weil es um einen Kongress der CHP geht. Man scheint noch nicht so ganz im Hier und Heute angekommen zu sein. Bezeichnenderweise waren Frauengruppen zwar vertreten, aber ein eigenes Thema wie »Gerechtigkeit bei den Geschlechtern« fehlte. Wenn zudem alle von Ungerechtigkeit betroffenen Menschen gesammelt werden sollen, dürften auch die Kurden kaum fehlen. Das schöne Canakkale ist eben sehr weit weg von ihren verwüsteten Städten im staubigen Südosten.

Damit trifft sich in Canakkale zum großen Teil doch wieder eine Türkei, die alleine dem Staatschef Recep Tayyip Erdoğan nie gefährlich werden kann. Dieser spottete denn auch, dass man in Canakkale, an den »Gräbern der Märtyrer« des Ersten Weltkrieges doch nur diskutieren würde, ob man Wodka, Wein oder Bier trinken solle. Angesichts des Zustandes der türkischen Medien dringt ohnehin nur wenig von dem, was in Canakkale gesprochen wird, nach Anatolien. Dort feiert Erdoğan den Sieg in der Schlacht von Malazgirt 1071. Da war kein Atatürk dabei.

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