Verehrt, verfemt und verfolgt

Das Museum Tate Britain zeigt queere Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts

  • Julian Volz
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Auffassung, dass Sexualität die Identität des Menschen grundlegend prägt, setzte sich allmählich erst im 19. Jahrhundert durch und bedurfte der Vergesellschaftung der Lust. Die (Sexual-)Wissenschaft des 18. und 19. Jahrhunderts setzte alles daran, die Sexualität als ausschließlich der Fortpflanzung dienend zu definieren. Das zeigte sich beispielsweise im verbitterten Kampf gegen die Onanie, aber auch in dem gegen die Homosexualität. So wurde die Heterosexualität gewalthaft als allgemeine Norm dieses neuen Identitätsmodus etabliert.

Nun erzeugt Unterdrückung aber immer auch Widerstand. Der homosexuelle Emanzipationskampf brachte eine blühende Kultur hervor, die eine wichtige Rolle bei der Herausbildung einer selbstbewussten homosexuellen Identität spielte. Eine Ausstellung in der Tate Britain in London ermöglicht derzeit einen spannenden Einblick in den Entwicklungsprozess der modernen homosexuellen Kultur in Großbritannien. Die Schau trägt den bewusst anachronistisch gewählten Titel »Queer British Art«, da der Begriff »queer« eine größere Anzahl von Sexualitäten und geschlechtlichen Identitäten abdeckt, als es das Wort »homosexuell« getan hätte. Sie umfasst eine Periode zwischen 1861 und 1967, also den Zeitraum zwischen der Abschaffung der Todesstrafe für »Sodomie« und der teilweisen Dekriminalisierung des Geschlechtsverkehrs zwischen zwei Männern in Großbritannien.

Die Kuratorin Clare Barlow sah sich bei der Konzeption der Ausstellung vor die Herausforderung gestellt, die Spuren homosexueller Künstlerinnen und Künstler zu entdecken, die in Zeiten lebten, in denen man Gefahr lief, für eine lange Zeit im Gefängnis zu landen, sofern man die eigene Sexualität auslebte. Denn die Homosexuellen des 19. Jahrhunderts sahen sich als verfolgte Minderheit vor die Aufgabe gestellt, eine eigene Ikonographie zu entwickeln und dabei Traditionslinien zu früheren, homoerotischeren Zeiten zu ziehen. Für Letzteres bot sich besonders die griechische Antike mit ihrer gesellschaftlich anerkannten Päderastie (»Knabenliebe«) und den überlieferten homoerotischen Gedichten an.

Zu Beginn der Ausstellung stößt man etwa auf die Werke des in den 1860er Jahren gefeierten, später aber in Vergessenheit geratenen Präraffaeliten Simeon Solomon. Wie alle Prä-Raffaeliten war er geprägt vom Stil der italienischen Renaissance. In leuchtenden Farben malte er romantisch verklärende Bilder der Antike. In der Tate ist sein Werk »Sappho and Erinna in a Garden at Mytilene« ausgestellt. Die von der Insel Lesbos stammende Dichterin Sappho ist zu sehen, wie sie vor mediterraner Kulisse neben einer anderen Frau sitzt, die sie sanft küsst; um sie herum Tiere, Pflanzen, Instrumente und eine Statue. Während es damals undenkbar gewesen wäre, ein Bild zweier sich küssender Männer zu malen, konnte die zärtliche Zuneigung zwischen zwei Frauen aus einer lang zurückliegenden Zeit gerade noch dargestellt werden, da Frauen sowieso eine eigene Sexualität abgesprochen wurde.

Der tragische Lebensverlauf von Simeon Solomon zeigt aber auch beispielhaft auf, wie das Leben von Menschen durch eine repressive Sexualmoral systematisch zerstört wurde. Während er anfangs in den Kreisen der Präraffaeliten hoch angesehen war, machte er sich mit der wachsenden Zahl seiner Porträts von nackten Jünglingen zunehmend verdächtig und wurde endgültig aus der Kunstwelt und ihrem Kanon verstoßen, als er bei einer sexuellen Handlung mit einem Mann auf einer öffentlichen Toilette erwischt wurde. Anschließend ging er an seinem Alkoholkonsum zugrunde und starb vereinsamt. Erst in den 1960er Jahren wurde er von der Kunstwelt zaghaft wiederentdeckt.

Ein anderer Teil der Ausstellung ist dem öffentlichen Umgang mit der Homosexualität bis 1920 gewidmet. Dort hängt ein lebensgroßes Porträt Oscar Wildes neben einer Gefängnistür. Es ist die Tür, hinter der Wilde seine Gefängnisstrafe wegen gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehrs verbringen musste. Ein gelungener kuratorischer Einfall. Die Konstrastierung der beiden Objekte zeigt die Lebensrealität vieler homosexueller Künstlerinnen in der damaligen Zeit: Auf der einen Seite im öffentlichen Leben stehend und wegen ihrer Kunst verehrt - auf der anderen Seite wegen ihres sexuellen Lebens verfemt und verfolgt.

Das Martyrium Wildes markiert auch eine Art Übergang von einem Jahrhundert ins nächste. Während ein homosexueller Lebensentwurf im 19. Jahrhundert noch nicht wirklich bestand und die Sexualität in sublimierter Form oder auf öffentlichen Toiletten ausgelebt wurde, bildeten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits vielfältige und selbstbewusste Lebensentwürfe, wie die der »Bloomsbury-Gruppe«, der ein eigener Raum gewidmet ist. Diese Künstlerinnen und Künstler, die sich in dem Londoner Stadtteil Bloomsbury trafen, formten einen fast kommunenartigen, queeren Zirkel und lebten in Dreiecksbeziehungen in unterschiedlichsten Konstellationen.

Der letzte Raum ist ästhetisch sicherlich am interessantesten. Hier hängen vornehmlich Bilder der beiden britischen Superstars der bildenden Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Francis Bacon und David Hockney. Ein Bild von Bacon mit dem Titel »Figures in a landscape« zeigt zwei Männer, die nackt übereinanderliegen. Es könnten antike Ringer sein. Genauso gut aber auch zwei britische Homosexuelle in den 1950er Jahren beim ausdauernden Geschlechtsverkehr. Das Bild ist absichtlich undeutlich und mit aufgebrochenen und ineinander übergehenden Farbflächen gemalt. Die Reminiszenz an die griechische Antike ist deutlich zu erkennen, aber auch an die schwule Sexualität. So wird deutlich, wie stark sich der Status der queeren Künstlerinnen und Künstler durch Emanzipationskämpfe in nur 100 Jahren gewandelt hat: Von ins Elend getriebenen Malern mit vermeintlich harmlosen Bildern aus der Antike zu selbstbewussten Künstlern mit expliziten homosexuellen Themen.

»Queer British Art 1861-1967«, Tate Britain, Millbank, London. Bis 1. Oktober; www.tate.org.uk

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