Der Eiermann
Volker Surmann über anthropologische Feldstudien im ICE
ICEs im Allgemeinen und Züge nach Berlin im Besonderen sind gute Labore für anthropologische Feldstudien. Gegenüber sitzt ein Proll: Jogginghose, Kapuzenpulli mit zu vielen Buchstaben, Zahlen und Reißverschlüssen: In einem Fitnessstudio in Mahrzahn-Hellersdorf wäre er 2004 vielleicht als cool durchgegangen.
Er sieht aus, als habe er gerade Hafturlaub, nachdem er 2004 besagtes Fitnessstudio gleich noch überfallen hat. Und er isst ein Ei.
Das ist nichts Verwunderliches: Der Konsum gekochter Eier gehört für viele Menschen zu einer Bahnfahrt dazu wie Tomatensaft zur Flugreise, Popcorn zum Kino, der Schuss zum Drückerraum oder die Oblate zum Abendmahl. Für gewisse Lebensmittel braucht der Deutsche spezielle Konsumräume.
Der Berliner Proll auf Hafturlaub hat vor sich einen Gefrierbeutel mit sieben hartgekochten Eiern. Jedenfalls denke ich, dass sie hartgekocht sind. Dann werde ich Zeuge, wie er eine neue Evolutionsstufe betritt. Doch nicht jede Stufe führt nach oben. Schritt 1: Der Eiermann nimmt ein Ei aus dem Beutel und legt es auf ein Taschentuch. Letzteres indiziert, dass er weiß, was kommt. Schritt 2: Mit ausgeklapptem Messer guillotiniert er das Ei mittig. Schritt 3: Er richtet die beiden Hälften des Eis sofort auf, damit nicht noch mehr rausfließt. Schritt 4: Er schlürft die erste Hälfte des Eis hörbar aus. Schlüüürp! Anschließend, Schritt 5, schabt er mit dem Klappmesser im Inneren der Eihälfte das letzte Bisschen Eiweiß zusammen. Chrrrrrikkk, chrrrrrikkk. (Kennen Sie das Geräusch von Fingernägeln auf einer Schultafel? Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie haben dazu den Geruch kalter Eier in der Nase und sitzen in einem Neigetechnik-ICE.) Schritt 6: Er verrührt das Zusammengekratzte zu einem flüssigen Brei. Wieso ich weiß, dass es ein flüssiger Brei ist? Schritt 7: Schlüüürp! Er kippt das Zeug wie einen Schnaps auf Ex aus der Schale: Yummi, Eierlikör! Schritt 8: Wiederholung der Schritte 4 bis 7 mit der zweiten Hälfte des Eis.
Im Gefrierbeutel sind noch sechs weitere Eier. Er wird doch wohl nicht ...? Der Eiermann greift in den Beutel: Er wird! Nun gut. Er ist Proll. Er braucht Eiweiß. Viel Eiweiß. Er ist mehr so der sportliche Typ. Er trägt eine Jogginghose. Mit Eiweißflecken. Und er ist zu doof zum Eierkochen.
Nach Ei Nr. 6 holt er sich ein Bier aus dem Speisewagen. Morgens um elf. Die passende Zeit für ein Feierabendbier. Wahrscheinlich muss er um 17 Uhr zurück in der JVA Tegel sein und will sich vorher zulöten. Ich will nicht wissen, was ein halber Liter Bier auf sieben weich gekochten Eiern im Magen macht. Insgeheim befürchte ich einen Mentos-Cola-Effekt.
Als der Eiermann auch noch Helene Fischer vom Handy hört, ohne Kopfhörer, wird’s mir endgültig zu unappetitlich: »Haben Sie Kopfhörer? Ich schreib hier grad ‘ne Kolumne.« Ich deute auf meinen Laptop.
»Worüba schreibste‘nn?«, fragt der Eiermann. »Über Sie, verdammt!«, sag ich lieber nicht, denn er hat ein Klappmesser. Ich sage: »Lebensmitteltechnologie.« »Klingt eklig«, sagt der Eiermann.
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