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Schichtwechsel in eine andere Arbeitswelt

Menschen mit Behinderung tauschen für einen Tag mit Beschäftigten aus Berliner Unternehmen den Job

  • Jan Schroeder
  • Lesedauer: 4 Min.

»Wir wollen eine Art ›Girl's Day‹ für Menschen mit Behinderung etablieren«, sagt Bettina Neuhaus, Geschäftsführerin der Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen Berlin. Für einen Tag in eine andere Arbeitswelt eintauchen, neue Erfahrungen machen - die Möglichkeit bieten der »Girls' Day« und der »Boys' Day« für die Angehörigen des jeweiligen Geschlechts, die Bereiche erkunden wollen, in denen sie unterrepräsentiert sind. Für Menschen mit Behinderung gab es eine solche Möglichkeit bislang nicht.

Heiko Hobohm verwaltet die Werkstatt für Menschen mit Behinderung »faktura« mit und ist selbst zu 50 Prozent schwerbehindert. Am 12. Oktober wird er zur Firma »ContiTech« wechseln und dort probeweise in der Qualitätsprüfung arbeiten. An diesem Tag findet in Berlin das Pilotprojekt »Schichtwechsel« statt. Für einen Tag schnuppern Menschen mit Behinderung in den allgemeinen Arbeitsmarkt und Beschäftigte aus dem allgemeinen Arbeitsmarkt in die Arbeitswelt der Werkstätten.

US-Präsident Donald Trump prahlt in seinem Buch »Die Kunst des Erfolges« damit, wie er früher Investoren täuschte. Wenn diese seine Baustelle begutachteten, wies er kurzerhand Arbeiter an, Betriebsamkeit zu simulieren. Alle Kräfte wurden in Bewegung gesetzt, um mit Baggern Löcher auszuheben und wieder zuzuschütten. Eine ähnliche Beschäftigungstherapie vermuten Viele hinter der Arbeit der Beschäftigten von Werkstätten für behinderte Menschen. Im Gegensatz zu Trumps Baustelle wird dort jedoch wirklich produziert. Weil die Wenigsten wissen, was in den Werkstätten geleistet wird, soll das Pilotprojekt in Berlin den Austausch zwischen den 17 Berliner Werkstätten und dem allgemeinen Arbeitsmarkt herstellen und dazu beitragen, dass die Werkstätten als gleichberechtigter Teil der Arbeitswelt anerkannt werden. »Das Projekt soll Begegnungen zwischen den Menschen über das Thema Arbeit schaffen«, sagt Neuhaus.

Heiko Hobohm bucht, kontiert, schreibt ab und verwaltet so die Warenaus- und -eingänge der »faktura GmbH« in Mitte. »Es geht hier langsamer zu, aber wir machen kein Malen nach Zahlen«, sagt er. Der 34-Jährige war lange und in vielen verschiedenen Branchen auf dem Arbeitsmarkt beschäftigt, bevor er vor vier Jahren in der Werkstatt anfing. Hobohm hat Industriekaufmann gelernt, dann Lehramt am Berufskolleg studiert - bis es nicht mehr ging.

Der mittelgroße, stämmige Mann wird nachdenklich. Er habe sich nicht auf sich und seine Krankheit konzentriert, sagt er. Ein erster Versuch, wieder in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu wechseln, scheiterte vor zwei Jahren. »Der Druck war zu groß«, sagt er rückblickend. Heiko Hobohm hat auch die »Ellenbogenmentalität« auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, den er auch die »freie Wildbahn« nennt, mit seiner Krankheit nicht ertragen. In der Werkstatt geht es wesentlich kollegialer zu, findet er. Bei der »faktura« kennt zwar nicht jeder die Krankheitsgeschichten des anderen, aber man hat Verständnis füreinander, nimmt Rücksicht. Auch Hobohm will die Art seiner Erkrankung nicht in der Zeitung veröffentlichen. »Ich bin immer neugierig und würde auch noch andere Bereiche ausprobieren«, sagt er.

Auch Nathalie Kühne aus der Kundenlogistik von »ContiTech« ist neugierig. Sie wird im Rahmen von »Schichtwechsel« die Arbeit in der Bonbonmanufaktur, einem von acht Werkstattbereichen bei der »faktura«, erkunden. Nachdem sie über einen Freund von dem Projekt erfahren hat, motivierte sie bei »ContiTech« auch andere Kollegen teilzunehmen.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte und die Vereinten Nationen kritisierten 2015, dass das Recht auf Arbeit und Beschäftigung im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention nicht voll umgesetzt wird. Menschen mit Behinderung würden in eine der mehr als 700 Behindertenwerkstätten wie in ein Paralleluniversum abgeschoben, statt in den allgemeinen Arbeitsmarkt integriert. Eigentlich müssen schon Unternehmen ab 20 Mitarbeitern mindestens fünf Prozent ihrer Stellen an Menschen mit Behinderung vergeben. Viele Unternehmer halten sich nicht daran und zahlen lieber eine Ausgleichsabgabe.

Das Projekt »Schichtwechsel« ermöglicht Begegnungen mit Werkstattbeschäftigte, die dadurch wiederum Einblicke in neue Berufsfelder bekommen. »Wenn sich ein Praktikum oder ähnliches daraus ergeben würde, wäre das natürlich sehr schön, aber das muss man erst mal abwarten«, sagt Hobohm. Ronny Dix, Werkstattleiter der »faktura«, dämpft jedoch zu große Erwartungen: »Für einen Großteil der Menschen in den Werkstätten ist ein privatwirtschaftliches Unternehmen nicht der richtige Ort. In den Werkstätten bekommen sie eine intensive Anleitung und Betreuung, sowie die Möglichkeit zur Teilhabe am Arbeitsleben«, sagt er.

Politisch fordert die Geschäftsführerin der Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten Neuhaus mit dem Projekt, »dass Werkstattbeschäftigte beim Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt begleitet werden, die Vorbereitung, Stellensuche und Betreuung in den ersten Arbeitsmonaten in einer Hand vereint und so der Wechsel für die Beschäftigten vereinfacht wird.«

Obwohl Berliner Unternehmen 130 Plätze für den Tausch bereitgestellt haben, sind noch mehr als 70 Interessierte aus den Werkstätten ohne Tauschstelle. Neuhaus hofft jedoch, dass sich weitere Firmen und Interessierte auf der Internetseite des Projekts www.schichtwechsel-berlin.de registrieren und Plätze für den »Schichtwechsel« anmelden.

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