Die Relativitätstheorie der Armut

Roberto J. De Lapuente über das Deutungsringen um einen Begriff, den die herrschenden Parteien gerne unter den Teppich kehren

  • Roberto J. De Lapuente
  • Lesedauer: 4 Min.

Leben wir nicht in einem goldenen Zeitalter? Arm – wer ist das heute noch? Selbst die Armen sehen aus wie »Reiche light«, wie KiK-kostengünstig eingekleidete Besserverdiener. Wer wohnt bei uns schon in Wellblechverschlägen und fischt sich Lebensmittel aus dem Abfall? Das gibt es in Deutschland gar nicht. Armut ist daher für viele Beobachter gar kein Terminus mehr, den man gebrauchen könnte. Sie ist aus der Mode gekommen, weil der heutige Wohlstand der Armut gar keinen Spielraum mehr lässt. Wer hungert denn bitte ernstlich? An einer Appendizitis verendet doch bei uns keiner. Armut ist abgeschafft – Deutschland macht weiter so.

So jedenfalls sieht es das Weiter-so-Deutschland. Es hält seit Jahren den Sparkurs und macht jeden kritischen Einwand an der Verteilung zu einer Stimme der allgemeinen Verschwörungstheorie. Indem man beispielsweise erklärt, dass Armut ja gar nicht existiere, weil man die ihr typischen Merkmale, wie wir sie beispielsweise aus unserem Mittelalter oder aber aus Burkina Faso oder Malawi kennen, nicht mehr gegeben sind. Man legt den Maßstab einer absoluten Armut an, mit dem unsere relative Armut gar nicht erfasst werden kann. Dieser Vorgang ist nicht nur überhebliche Arroganz – er hat politische Dimension. Auf diese Weise entlastet man die Politik, sich mit der Armuts- bzw. Verteilungsfrage zu beschäftigen.

»Kampf um die Armut« nennt Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, dieses Phänomen der Vertuschung. In dem gleichnamigen Buch, dass kürzlich unter seiner Herausgeberschaft erschienen ist, gibt er sich als Chronist eines Kampfes um die Deutungshoheit. Seitdem der Wohlfahrtsverband von der Armut im Lande berichtet, so schreibt Schneider, muss er sich unterstellen lassen, er würde die Armut aufbauschen, um sich ein Betätigungsfeld zu sichern. Und weil die Kritiker von Armutsberichten verkünden, sie würden keine klassischen Slums oder Favelas kennen, glauben sie damit das Thema Armut vom Tisch wischen zu können.

Dabei sprechen wir von relativer Armut, die eine andere Form des allgemeinen Armutsbegriffs ausmacht. Armut manifestiert sich in Deutschland – mit Ausnahme einiger Einzelfälle – eben nicht dadurch, dass jemand Lumpen trägt und das Mark aus Hühnerknochen lutscht, die er eben in der Mülltonne gefunden hat. Relative Armut zeigt sich durch soziale Ausgrenzung, durch Zurückstehen vom öffentlichen Leben, durch die elterliche Schmach, dem eigenen Kind Gründe für seine Nichtteilnahme an einem Ausflug nennen zu müssen. Von schulischen Förderangeboten, die man seinem Kind nicht finanzieren kann, mal ganz zu schweigen.

Man versinkt ja nicht direkt in einem Leben, das einem tierischen mehr als einem menschlichen gleicht, wie man das in Gegenden absoluter Armut beobachten kann. Relative Armut ist ein oft schleichender Prozess, ein Leben von letzten Ersparnissen, ein betuliches Einstellen sozio-ökonomischer Teilhabe. Man gleitet hinab in einen entbehrungsreichen Alltag, der freilich nichts mit dem in einer Favela gemein hat. Dass man die hiesige Armut aber damit kleinredet, die Menschenunwürdigkeit in solchen Gefilden als Vergleich heranzuziehen, lässt wirklich tief blicken.

Olaf Scholz' Vorwurf, Sahra Wagenknecht würde sich als Verschwörungstheoretikerin üben, war im Grunde auch nur so ein »Kampf um die Armut«, ein Deutungsringen um einen Begriff, den die herrschenden Parteien gerne unter den Teppich kehren. So wie man von Geld nicht spricht, spricht man auch im momentanen politischen Klima nicht vom Gegenteil, von denen, die eben kein Geld haben. Nur ist es so, dass man von Geld aus genau einem Grunde nicht spricht: Man hat es. Von der Armut spricht man hingegen nicht, weil man sie angeblich nicht kennt und nicht hat.

Es wurde in der Anfangsphase dieses »Wahlkampfes« oft von sozialer Gerechtigkeit gesprochen. Mit der Definition von relativer Armut, ja mit der Anerkennung dessen, dass nicht nur absolute Armut etwas ist, was es zu bekämpfen gilt, sondern eben auch die Folgen der bei uns vorherrschenden relativen Variante, kommt man der sozialen Gerechtigkeit näher. Solange man die aber abtut als bloßes Gejammer einer Armutslobby, gibt es da keinerlei politische Mobilität in der Verteilungsfrage. Bevor man »Kampf der Armut!« ruft, muss man den Kampf um die Armut gewinnen.

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