Juncker außer Raum und Zeit
Katja Herzberg über eine Rede des EU-Kommissionspräsidenten, die sich zu wenig mit der Lage der Europäischen Union beschäftigt
Euro-Einführung in allen EU-Staaten, 30 EU-Mitglieder bis 2025, Einsetzung eines Europäischen Wirtschafts- und Finanzministers, legale Zuwanderungswege in die EU, weitere Freihandelsabkommen – die Reformpläne von Jean-Claude wirken wie aus Raum und Zeit gefallen. Angesichts der zunehmenden Spannungen zwischen den EU-Staaten und -Institutionen – siehe Brexit, Grenzschließungen, Handelsabkommen – sind Vorschläge für eine bessere Zusammenarbeit auf europäischer Ebene nur allzu nötig. Doch eine engere Kooperation, wie sie Juncker nun in seiner Rede zu Lage der Europäischen Union einforderte, scheint heute noch mehr Wunschdenken zu sein als bei seinem Amtsantritt als EU-Kommissionspräsident vor drei Jahren.
Juncker hatte sich hohe Ziele gesetzt. Er wollte nicht nur die EU-Kommission politischer machen, er nährte die Hoffnung, es könne nach den Jahren der Finanz- und sozialen Krise in Europa eine Reformperiode beginnen. Die Ära der politischen Stagnation, die von der Grexit-Bedrohung überschattet war, sollte der Vergangenheit angehören. Junckers größtes Ziel: ein weitreichendes Investitionsprogramm zur Ankurbelung des Wachstums und zur Vertiefung des Binnenmarkts.
Ebenso formulierte es den Anspruch einer Neuausrichtung und Vergemeinschaftung der Migrationspolitik – die Realitäten holten jedoch nicht nur Juncker viel zu schnell ein, also im Sommer 2015 Hunderttausende Geflüchtete nach Europa kamen. Es zeigte sich, dass viele EU-Staaten nicht zu mehr Solidarität bereit sind. Ein Jahr nach seinem Amtsantritt musste Juncker seine Pläne bereits begraben. Die Umverteilung eines kleinen Teils der Geflüchteten wurde zwar noch beschlossen, ist aber bis heute trotz gerichtlicher Feststellung ihrer Rechtmäßigkeit nur in Ansätzen vollzogen.
Dass Juncker trotz seiner Erfahrungen der vergangenen drei Jahre an der europäischen Idee festhält, ist löblich, wird der aktuellen Lage aber nicht gerecht. Seine heutige Rede geht an den drängenden Fragen dieser Zeit vorbei: dem bevorstehenden GAU des Brexit, den Kriegen und Krisen in Nahost sowie Afrika, dem Auftrieb von Nationalismus und Chauvinismus in »Kerneuropa«. Statt einer ehrlichen Bestandsaufnahme dieser Probleme und der wachsenden Differenzen innerhalb der aktuellen EU der Vielen – nicht der Verbundenen – versucht Juncker mit kleinen Schritten eine politische Union zusammenzuhalten, die ihrem Namen nur wenig gerecht wird. Darüber müssten Juncker und Co. diskutieren, nicht über gut gemeinte Pläne, die derzeit keine Chance auf Umsetzung haben. Für all das reicht auch die viel beschworene Achse Berlin-Paris schon lange nicht mehr.
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