Gegerbt, gekerbt
Harry Dean Stanton tot
Die Augen machen den großen Aufriss. Diese Augen. Der Mann mit dem staubig roten Basecap schaut hinüber zum Aasgeier auf einem naheliegenden Felsstück. Es ist der Blick jener Anverwandlung, die in Todesnähe unsere Gesichter modelliert. Angst trifft Neugier, die Müdigkeit den Schrecken. Dieser Mann da in der Wüste, im Südwesten der USA, er schrieb in Cannes Filmgeschichte. Es ist der verschollen geglaubte, gedächtnisverlassene Trevis Henderson, der langsam, sehr langsam ins Leben zurückfindet. Gespielt von Harry Dean Stanton, in »Paris, Texas« von Wim Wenders. Ein Road Movie fast ohne Straßen, aber mit viel Wüste, innen wie außen. Stanton spielt gleichsam den Sand, der einem Menschenleben durch die hageren Finger rinnt. Bis ihm wieder ein Herz erwacht. Unvergessen. Ein Abwesender sucht sich, um am Leben zu sein - die Fremde.
Dieser Schauspieler, 1926 geboren, war das Kerbholz, auf das große Regisseure ihre Zeichen schnitten, wenn diese nicht glänzen, sondern drohen sollten. Er war das zauberhaft gegerbte Gegenbild zu den Heroes. Coppola, Scorsese, Lynch holten ihn vor die Kamera, ein Nebenstellenhauptheld, ohne dessen Wahrheit kein Leben auskommt, schon gar nicht der Western: In der Kälte wird alles elektrisch. Er wirkte oft wie einer, der nach dem Absoluten sucht. Und wer danach sucht, wirkt immer verwirkt. Oder gnadenlos. Oder kindlich. Am gnadenlosesten wirken Kinder. August Strindberg wurde mal gefragt, was herauskäme, wenn man ihn aufschnitte. Ein Kind, sagte der Dichter, ein altes Kind. So spielte Stanton.
Bald kommt »Lucky« von John Carroll Lynch in die deutschen Kinos. Stanton wieder in der Wüste. Ein Einsiedler. Im Wissen ums baldige Sterben blüht dieser Filmgestalt ein melancholischer Trotz. Das Kino als Entrückung in eine Welt, in der das Gedächtnis aufgewiegelt wird, es gebe keine tötbaren Augenblicke. Es gibt sie tatsächlich nicht, und es gibt sie doch. Nun ist Harry Dean Stanton im Alter von 91 Jahren gestorben. hds
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