Neue Fluchtroute, alte Gefahr: Über das Schwarze Meer

Nach der Abschottung der Mittelmeerroute versuchen Flüchtlinge vermehrt, das Schwarze Meer zu überqueren

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 4 Min.

Die See war aufgewühlt, starke Windböen wehten über das Wasser. Bis zu drei Meter hoch schlugen die Wellen auf dem Schwarzen Meer in der vergangenen Woche. Der rustikale Fischkutter »Ruya 1« verlor unter diesen Bedingungen in der Nacht die Kontrolle, er driftete ab. Die rumänische Küstenwache konnte das sich in Seenot befindende Boot gerade noch in letzter Sekunde entdecken. 153 Menschen aus Iran und Irak, ein Drittel Kinder, wurden gerettet. Die Soldaten brachten die Flüchtlinge zum Hafen von Midia und übergaben sie dort Vertretern der Einwanderungsbehörde. Es waren nicht die ersten Schutzsuchenden, die dort ankamen.

Rund 500 Flüchtlinge in fünf Booten versuchten zwischen August und September die rumänische Küste zu erreichen. Gemessen an den 100.000 Menschen, die dieses Jahr in Europa über das Mittelmeer ankamen, fällt das kaum ins Gewicht. Nachdem durch die jüngsten Abschottungsbemühungen Italiens und der EU die Strecke zwischen Libyen und Sizilien jedoch so gut wie geschlossen ist, könnten diese Ankünfte aber auch als Vorboten und Testversuche einer neuen Route gedeutet werden.

Krzysztof Borowski, Sprecher der EU-Grenzschutzagentur Frontex, erklärte jüngst gegenüber der Nachrichtenagentur AFP, dass Schlepper in der Türkei versuchen würden, die Schwarzmeer-Route »wiederzubeleben«. 2014 hatten 430 Schutzsuchende diese Route genutzt, 2015 dann 68 und 2016 nur noch einer. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR will dagegen mit eine konkreten Einschätzung noch warten. Gegenüber »nd« erklärte der Sprecher Martin Rentsch: »Es ist zu früh, um aus den bisherigen Vorfällen eine Schlussfolgerung über neue Fluchtrouten zu ziehen.« Das UNHCR beobachte jedoch die Situation sehr genau. »Klar ist aber, dass immer, wenn legale Wege in die Sicherheit versperrt sind, neue irreguläre Routen entstehen.« Auch die Balkan- und Ägäisroute wurden in den vergangenen Jahren blockiert, so dass Flüchtlinge und Migranten gezwungen sind, auf gefährlichere Strecken auszuweichen. Die Schwarzmeer-Route gilt dabei aufgrund der ungestümen Windverhältnisse und der im Vergleich kälteren Temperaturen als weitaus unberechenbarer als die Mittelmeerroute. »Auf dem Schwarzen Meer weißt du nicht, was in 20 Minuten passiert. Die Migranten, die diese Strecke gefahren sind, müssen eine sehr harte Überfahrt erlebt haben«, sagte Răzvan Samoilă von der rumänischen Nichtregierungsorganisation Arca gegenüber der britischen Zeitung »guardian«.

Auch auf dem Landweg, hauptsächlich über Serbien, hat der rumänische Grenzschutz eine Zunahme an unerlaubten Übertritten festgestellt. In der ersten Jahreshälfte nahmen die Beamten rund 2800 illegal eingereiste Personen fest, fünfmal mehr als im gleichen Vorjahreszeitraum. Der Großteil kam aus Irak, Syrien und Pakistan. Sicherheitskräfte wollen mittels Nacht- und Wärmesichtgeräten, Helikoptern, Videoüberwachung und Stacheldraht vor allem aber ein unerlaubtes Verlassen des Landes Richtung Westen verhindern. »Rumänische Grenzer versuchen, die Flüchtlinge abzufangen und zurückzuholen«, sagte Johanna Bussemer. Leiterin des Referats Europa der Rosa-Luxemburg-Stiftung, gegenüber »nd«. Rumänien ist noch kein Mitglied des Schengenraumes - mit einem rigiden Vorgehen gegen Flüchtlinge will es aber offenbar der EU beweisen, dass es seine Grenzen unter Kontrolle hat.

Rumänien zeigt gleichzeitig keine große Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen. Anfangs hatte sich das Land wie die anderen Visegrad-Staaten Ungarn, Polen, Slowakei und Tschechien einer Quotenregelung verweigert. Nach dem Verteilschlüssel der EU sollte es 6351 Flüchtlinge bei rund 20 Millionen Einwohnern erhalten. Im August erklärte sich Außenminister Teodor Melescanu dazu bereit, 1942 Schutzsuchende aufzunehmen. Im Moment sind nur rund 700 Flüchtlinge im Land.

Theoretisch können Flüchtlinge in Rumänien Asyl beantragen, doch laut lokalen NGOs ziehen die meisten der Schutzsuchenden weiter Richtung Mitteleuropa. »Die Flüchtlinge wollen nicht bleiben, weil sie in dem Land wenig Perspektiven haben«, sagte Johanna Bussemer. Laut einer Studie der deutschen NGO Pro Asyl von 2012 muss ein Asylantragsteller in Rumänien von etwa 85 Cent am Tag leben.

Doch auch in den anderen Schwarzmeer-Anrainerstaaten sind die Bedingungen bedrückend: Menschenrechtsorganisationen dokumentierten Fälle in Bulgarien, in denen Grenzpolizisten Flüchtlinge zurückgewiesen, körperlich misshandelt und bestohlen haben sollen. In der instabilen und teilweise zerstörten Ukraine gibt es wiederum bereits zahlreiche Binnenflüchtlinge und rechtsradikale Milizen. Bussemer geht davon aus, dass es ein großes Interesse gibt, die Flüchtlinge in der Türkei von ihrer Überfahrt abzuhalten: »Die EU wird vermutlich großen Druck auf die betreffenden Staaten ausüben, um auch die Schwarzmeer-Route schnell wieder zu schließen.«

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