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- Europa nach der Bundestagswahl
Dämpfer für den Mercronismus
Brüssel und Paris wollen mehr Tempo beim Umbau der EU / Die FDP könnte sich querstellen
Europa spielte im deutschen Bundestagswahlkampf kaum eine Rolle. Der deutsche Bundestagswahlkampf aber spielte für Europa eine Rolle. Zunächst eine bremsende: Denn die von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker angeschobene Debatte zur Zukunft der EU-27 musste - aus Rücksicht auf die Wahlen - de facto pausieren. Nach den Wahlen sollte sich das im Sommer zum europäischen Traumduo hochstilisierte Gespann Angela Merkel und Emmanuel Macron an die Spitze des EU-Umbaus setzen und dessen Zugpferd werden. Macron steht dafür längst in den Startlöchern.
Weder Juncker noch die französische Regierung wollen weiter warten. Für Dienstag hat Macron eine Grundsatzrede zu seinen EU-Reformplänen angekündigt. Herzstück dieser Pläne ist die Schaffung eines EU-Finanzministers mit eigenem Budget. Allerdings: Ohne die deutsche Regierung geht kein EU-Umbau. Das wissen alle Beteiligten. Und so ist das Wahlergebnis aus Brüsseler wie aus Pariser Sicht kompliziert. Denn wie es aussieht, wird Merkel vorerst weiter verhindert sein. Die Koalitionsgespräche könnten sich hinziehen, sogar Neuwahlen stehen im Raum.
Auch die Aussicht auf ein Jamaika-Bündnis ist für Brüssel und Paris eine verunsichernde. Denn die FDP liegt mit ihrer europapolitischen Programmatik weit entfernt von Juncker, und vor allem von Macron. Daran ändern auch die vielen wirtschaftspolitischen Gemeinsamkeiten zwischen den Liberalen von der FDP und den Liberalen aus Paris und Brüssel nichts. Am Montagvormittag bekräftigte die FDP noch einmal ihr Wahlprogramm. So betonte Parteichef Christian Lindner in der Pressekonferenz, dass zwar eine »inhaltliche Verwandtschaftsbeziehung« mit Macron existiere und wies darauf hin, dass sich dessen Bewegung im Europaparlament der liberalen Fraktion angeschlossen habe. Aber: »Einem europäischen Haushalt, der zu einem Finanzausgleich führt, können wir nicht zustimmen.«
Auf der anderen Seite stehen die Grünen. Sie wollen sich an Macrons Seite stellen. Am Wahlabend war es der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der das Thema EU als erster überhaupt aufs Tableau brachte, als er sagte, es stehe viel auf dem Spiel. »Wir sind die stärkste Wirtschaftskraft in Europa. Es steht das Bündnis mit Macron zur Debatte, um Europa wieder nach vorne zu bringen«, so Kretschmann. Sven Giegold, Mitglied der Grünen Fraktion im Europaparlament, drückte am Montag auf die Tube. Macron sei derzeit Europas größte Hoffnung. Die künftige Bundesregierung dürfe ihn als Chance für Europa nicht verspielen. »Es wird Zeit, dass Deutschland sich zu den Reformplänen von Macron positioniert. Auch bei möglichen Sondierungsgesprächen mit Union und FDP wird die Positionierung zu Macrons Plänen ein Knackpunkt«, so Giegold.
Die französische »Le Monde« hob die Differenzen ebenfalls hervor: Grüne und FDP seien mit antagonistischen Programmen zu drei Schlüsselfragen gewählt worden: Europa, Steuern und Energiepolitik. Uneinigkeit besteht also nicht nur bei der Frage des Finanzministers. Ein anderes Beispiel ist die »soziale Säule«, die Juncker in Aussicht gestellt hatte und die auf einem Sondergipfel im November konkretisiert werden soll. Gewerkschaften geht die bisherige Konzeption, ebenso wie den Grünen, Linken und der SPD, nicht weit genug.
Der FDP hingegen geht sie schon jetzt zu weit. In ihrem Wahlprogramm erklärte sie, die Vorschläge der Kommission zu einer sozialen Säule seien »nicht zielführend«. Jeder Mitgliedstaat müsse »nach wie vor für seine eigene Arbeitsmarktpolitik, sein soziales Sicherungssystem und seine Unterstützung sozial Schwacher selbst verantwortlich bleiben«. Die Grünen hingegen wollen dem Vertrag von Lissabon eine »soziale Fortschrittsklausel an die Seite stellen« - das Gegenteil dessen, was die FDP fordert. Nun könnte man sagen, dass diese Fragen nachgeordnet sind. In der EU aber stehen sie auf der Tagesordnung und werden die kommende Legislaturperiode bestimmen.
Das deutsche Wahlergebnis bietet aber noch aus einem andere Grund Anlass zur Sorge in Brüssel, auch wenn Juncker diese nicht öffentlich zugeben will: Mit der AfD ist eine Partei zweistellig in den Bundestag eingezogen, die die Rückkehr zur D-Mark fordert und weniger EU zugunsten von mehr nationalstaatlicher »Souveränität« anstrebt - und die zu einem Großteil die EU komplett infrage stellt.
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