Tagtägliche Ausbeutung
Gewerkschafter Anshim Roy über den informellen Sektor in Indien und die Verantwortung der Industrieländer
Ihre Gewerkschaftsinitiative NTUI ist noch recht neu. Warum haben Sie sie gegründet?
Wir waren der Auffassung, dass es aus zwei Gründen eine neue Art der Gewerkschaftlichen Organisation in Indien bedurfte: Erstens wollten wir verstärkt mit sozialen Bewegungen zusammenarbeiten, um neue Arbeiter zu organisieren. Zweitens sind die Gewerkschaften in Indien politisch gespalten. Da gibt es auf der Ebene von Unternehmen und Industrien häufig keine Einigkeit bei Tarifverhandlungen.
Ashim Roy ist Vize-Vorsitzender der Anfang des Jahrtausends gegründeten New Trade Union Initiative (NTUI). Die Gewerkschaft engagiert sich vor allem für Arbeiter im informellen Sektor. Mit ihm sprach Simon Poelchau über die Schattenseiten globaler Wertschöpfungsketten.
Dem wollten Sie entgegenwirken?
Ja. Wir haben den Anspruch, dort wo wir vertreten sind, die einzigen Verhandlungsführer auf Seiten der Arbeiterschaft zu sein. Anstatt die Gewerkschaften zu spalten und Minderheitenvertretungen zu schaffen, wollen wir zumindest auf Betriebsebene starke Arbeitervertretungen aufbauen.
Ihr Anspruch auf eine einzelne Arbeitergewerkschaft jenseits von politischen Differenzen hört sich so an, also ob Sie den Deutschen Gewerkschaftsbund als Vorbild haben.
Das stimmt. Aber unsere Gewerkschaft ist vor allem auch eine Graswurzelbewegung. Wir sind sehr stark an der lokalen Basis verankert und arbeiten da auch viel mit sozialen Bewegungen zusammen.
Sie engagieren sich vor allem im informellen Sektor. Warum?
Neun von zehn Indern arbeiten in diesem Sektor. Sie arbeiten von zu Hause aus oder in kleinen Manufakturen. Sie arbeiten in der Landwirtschaft, in der Forstwirtschaft und in der Fischerei. Sie haben in diesen Unternehmen meist weder richtige Verträge noch Zugang zu Arbeitsrechten, noch sind sie gewerkschaftlich organisiert.
Was sind die drängendsten Probleme dieser informellen Arbeiter?
Dadurch, dass sie meist keine richtigen Verträge haben, sind sie auch nicht abgesichert. Sie können jederzeit gefeuert werden. Sie müssen häufig zehn Stunden am Tag unter massiven Zeitdruck und gesundheitsgefährdenden Bedingungen arbeiten und bekommen dafür nur ein Bruchteil dessen, was ein formell Beschäftigter in Indien verdient. So liegt der Durchschnittslohn im informellen Sektor knapp unter 7000 Rupien, was umgerechnet 94 Euro im Monat sind. Häufig wird sogar unter dem Mindestlohn gezahlt, der laut bundesstaatlicher Empfehlung derzeit bei 160 Rupien beziehungsweise 2,14 Euro am Tag liegen sollte.
Gibt es Verbindungen des informellen Sektors in Indien mit den reichen Industrieländern?
Häufig ist der informelle Sektor in Indien das eine Ende einer weltumspannenden, großen Wertschöpfungskette. Deutsche und europäische Marken nutzen nämlich gerne die Güter und Rohstoffe, die unter informellen Arbeitsbedingungen in Indien oder Asien geschaffen wurden. Deswegen fordern wir von diesen Konzernen und den europäischen Regierungen, dass sie uns in unserem Recht auf Organisationsfreiheit und höhere Löhne unterstützen.
Die ganzen Initiativen und Kampagnen für bessere Arbeitsbedingungen im globalen Süden, wie es sie zum Beispiel mit dem Textilbündnis gab, haben bisher noch nichts gebracht?
Leider nein. Es gab noch keine Lohnerhöhung im globalen Süden. Das Problem ist, dass die großen Konzerne sich und ihre Verantwortung hinter einem System von Subunternehmen verstecken. Und in diesen Subunternehmen, wo sie für sich produzieren lassen, gibt es keine Gewerkschaften, die höhere Löhne für die Arbeiter aushandeln könnten. Deshalb ist dort immer noch extreme Ausbeutung tagtäglich.
Glauben Sie, dass die Regierungen der reichen Länder das ändern könnten?
Das Problem ist, dass die Regierungen der reichen Staaten zum Großteil Gehilfen der multinationalen Konzerne geworden sind in deren Bestreben nach möglichst viel Profit. Deswegen sind diese Regierungen stark in der neoliberalen Logik verhaftet. Und solange diese Logik nicht gebrochen wird, wird es leider keine Konzessionen an uns geben.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.