Die Besteigung des Mount Angsti

15 000 Besucher erklimmen jährlich das Dach des Münchner Olympiaparks - natürlich im Rahmen von Führungen

  • Sabine Dobel, München
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn Nadine Schnabel aufschaut, sieht sie die Frauentürme und dahinter die Bergkette der Alpen. Postkartenmotiv - am Arbeitsplatz. Die Studentin ist auf dem Zeltdach des Münchner Olympiazentrums beschäftigt. Sie hilft dort Besuchern auf dem Weg in die Tiefe: Mit einer Seilrutsche - einem Flying Fox - können sie nach einer Wandertour über das elegant geschwungene Zeltdach - ein Wahrzeichen Münchens - wieder auf die Erde gelangen. »Das ist schon einer der coolsten Jobs, die man haben kann«, sagt die 22-Jährige.

Das Zeltdach, für die Olympischen Spiele 1972 in München errichtet und als architektonische Meisterleistung gefeiert, überspannt mit rund 75 000 Quadratmetern die Olympiahalle, die Schwimmhalle und Teile des Stadions. An bis zu 80 Meter hohen Pylonen hängen Drahtseilnetze, die mit Acrylglas-Platten verkleidet sind. Die lichtdurchlässige, fast schwebende Konstruktion nach dem Modell des Architekten Günter Behnisch sollte bei den ersten Olympischen Spielen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg für Transparenz, Leichtigkeit und heitere Spiele stehen. Das Zeltdach ist zugleich der Alpensilhouette nachempfunden, so wie die Parklandschaft mit ihren Hügeln und dem See an das Alpenvorland erinnert.

Gut 40 Meter über dem Boden steht auch Nadine, gesichert mit einem Komplettgurt, auf der Brüstung hängt sie die Seilrutsche ein. Die Besucher haben die 4,5 Kilo schwere Rolle in kleinen Rucksäcken mit nach oben getragen. Nadine klettert in ihrer Freizeit - sie weiß, wie man mit Sicherungsgeräten und Karabinern umgeht. Für den Blick über die Stadt und zu den Alpen hat sie jetzt kaum Zeit - denn ihre Aufgabe erfordert volle Konzentration. Jeder Handgriff muss sitzen. Bei fast jeden Wetter ist Nadine an ihrem Arbeitsplatz. »Im Frühjahr kann es schon kalt werden an den Fingern.« Aber: »Ich würde auf keinen Fall gegen einen Bürojob tauschen wollen.«

Daniel Richter und Vitoria De Pieri haben die Besucher auf das Dach hinaufgebracht. Die beiden führen verschiedene Touren, die es im Münchner Olympiapark gibt: durch das Stadion, durch den Park - und seit 2003 auch über das Zeltdach. Vorbild stand die Sydney Barbour Bridge, die man seit den Olympischen Spielen im Jahr 2000 besteigen kann. Rund 15 000 Gäste erklimmen jährlich das Münchner Zeltdach, geführt von insgesamt rund 50 Guides.

Der 27-jährige Daniel ist seit 2011 dabei - für ihn ist das auch nach sechs Jahren und etwa 100 Touren pro Jahr »auf jeden Fall« noch immer das Highlight. Und Vitoria sagt: »Ich bin nach wie vor absolut begeistert.« Die Guides steigen auch bei Regen und Schnee in die Höhe. Abgesagt wird die Zeltdach-Tour nur, wenn der Steig auf dem Dach vereist ist oder es allzu sehr stürmt und schüttet. Und bei Gewitter. »Dann dürfen wir nicht hoch«, sagt Vitoria.

Für die Gäste gibt es für den Notfall Schuhe mit fester Sohle und Regenkleidung. »Es ist wie auf dem Berg«, sagt Margit Schreib von Olympiapark München GmbH. Entsprechend wurden die Dachspitzen gelegentlich wie Berge benannt: Mount Angsti etwa hieß unter Insidern eine Spitze - allerdings nicht, weil die Besteigung Angst einflößt, sondern weil der erste Tourguide, der den »Gipfel« 2003 erklomm, Markus Angstwurm hieß.

Die Sicherheitsvorkehrungen für die Tour sind strikt: Rauchverbot, komplett leere Hosen- und Jackentaschen. Wer für Fotos ein Handy mitnehmen will, muss es in eine Plastikhülle stecken, die um den Hals hängt. Nichts darf in die Tiefe fallen - denn unten könnten die Gegenstände andere Besucher treffen und verletzen. Wer betrunken ist, muss unten bleiben, und auch eine ausreichende körperliche Konstitution ist für die etwa zweistündige Tour Voraussetzung. Für die Seilrutsche Flying Fox sind die Bestimmungen noch strenger: Die Teilnehmer sollen mindestens 40 Kilogramm, maximal aber 120 wiegen. Die korrekte Angabe des Gewichtes sei wichtig, um die Bremskraft der Anlage richtig einstellen zu können, erläutert die Olympiapark München GmbH. Bei Zweifeln müssen sich Gäste sogar Nachwiegen lassen. Depressionen, Schwindel, Höhenangst, Herzkrankheiten, Schwangerschaft und »Taumeligkeit« - all das sind Ausschlusskriterien.

Auch ohne diese körperlichen Einschränkungen steht mancher am Ende der Tour minutenlang auf dem kleinen Vorbau des Flying Fox in schwindelnder Höhe, ehe er den Sprung in die Tiefe wagt - mit einem letzten Blick auf die Frauenkirche und die Bergkette der Alpen in der Ferne. dpa/nd

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