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Die Offenbarung des Körperlichen
Der Gropius-Bau zeigt Arbeiten von Lucian Freud: Ein Rückkehrer?
Die Familie Freud ist durch Sigmund Freud und die Psychoanalyse legendär genug. Dessen jüngste Tochter Anna erweiterte seine Lehre, indem sie in Wien eine Praxis für Kinderpsychiatrie eröffnete. Als sie sich und den Vater 1938 vor der Verfolgung durch die mit dem »Anschluss« einrückende Nazi-Übermacht nach London rettete, setzte sie dort ihr Engagement fort. Ihr älterer Bruder Ernst Ludwig, der sich in Berlin einen Namen als Architekt und Erbauer von Villen im Bauhaus-Stil gemacht hatte, war vorangegangen. 1933 hatte er die Konsequenz aus Morddrohungen gegen sich als Jude gezogen und sich mit seiner Familie am Ufer der Themse ein neues Wirkungsfeld gesucht.
So verlor sein 1922 geborener Sohn Lucian, Zögling des Französischen Gymnasiums Berlin, seine deutsche Heimat. Als dieser sich nach dem Krieg als Maler und Grafiker präsentierte, wurde er bereits als Brite wahrgenommen. Da er sich als lupenreiner Realist und tiefgründiger Menschendarsteller entpuppte, wurde er von der aktuell total aufs Abstrakte eingeschworenen Kunstszene zunächst geschnitten. Erst als er Hochadel und Königshaus mit frappierend echt getroffenen Porträts beeindruckt hatte, wendete sich das Blatt: Er wurde der höchstbezahlte Realist der Gegenwart. Sechs Jahre nach seinem Hinscheiden darf er heute die höchste Qualität urbritischer Kunstäußerung personifizieren. Und die in der Schweiz ansässige private UBS Kunstsammlung kann uns eine Auswahl seiner Radierungen zeigen.
Der alte Freud war berüchtigt dafür, seine Patienten im schwülstigen, von Teppichen und Mobiliar überquellenden Ambiente zu empfangen. Der obsessiv aufs Malhandwerk fixierte Enkel bevorzugte den leeren Raum. Da platzierte er seine splitternackt hingelagerten Modelle. Es ging ihm darum, ihre oft dralle Körperlichkeit akribisch zu studieren. Das Posieren auf den bisher üblichen Aktbildern verachtete er. Er wollte keine »schöne« Oberfläche. Über Wochen zog sich diese Arbeit hin - in der Regel stundenlang. Da verwandelte sich der im Privatleben freizügig exzessiv Lebende: Gewissenhaft alle Details von Hautatmung und Muskelspannung studierend, modellierte er mit pastos aufgetragenen Farbschichten Bild auf Bild. Der Alte war seelischen Verspannungen auf der Spur gewesen, der Enkel erkundete die körperlichen. Gleichzeitig bewegt und in majestätischer Statik erstarrt die Leiber zu zeigen, das ist das eigentliche Ereignis Lucian Freud.
Insofern ist der Titel »Closer« für diese Ausstellung recht treffend. Enger und enger dem Menschen nahe zu sein, war ebenso das Credo des in Farbe schwelgenden Malers wie des Grauwerte ausbalancierenden Radierers. Ein in sich logisches System tut sich auf. Lange nach dem in allen Hautvarianten farbig Erfassten und malerisch Gestalteten kam das Radieren. Große Kupferplatten senkrecht auf die Staffelei gestellt, wurde Gesehenes fixiert: Präzise konturiert die »Haltung« eines Gesichtes oder eines Körpers. Beides entblößt von affektierter Pose. Faszinierend, wie Farbwerte nun in der grafischen Struktur der Binnenzeichnung bis weit in die Stirnpartien und Körperwinkel wiederkehren. Traurig genug, wie wenig wir in Deutschland bisher von Freudschen Bildoriginalen zu sehen bekamen. Das sich in seiner angeblichen Weltläufigkeit spreizende Berlin ignoriert sie seit drei Jahrzehnten.
Umso eindrücklicher nun die Wirkung der an die fünfzig kleineren und größeren grafischen Blätter. Flankiert lediglich von zwei Ölbildern und einem Aquarell ist die Schau ganz auf den Schwarzweißeffekt gestellt. Auf freier Fläche frontal die Gesichter der Tochter Bella wie des Freundes David Dawson, der Mutter sowie eines »Irishman« oder der Susanna Chancellor. Einmal nur ist bei Beginn des Radierens 1982 das Porträt von Lawrence Gowing als Skizze belassen. Alle anderen sind konsequent bis zum Punkt der Vollendung durchgeführt.
Die zwölf Akte sind im Extraraum wahrlich als Nacktporträts inszeniert. Sue Tilley als in ihrer Korpulenz immer wieder auffallendes Modell spielt dabei durchaus keine Sonderrolle. Gelegentlich expandiert die Skala des Darstellenswerten auf pflanzlich Gewachsenes im Garten. Er tritt aus dem Atelier heraus, und entdeckt sein Naturgefühl. Den Bogen zur Tradition schlägt er in der Verbeugung vor dem großartigen Menschenschilderer aus dem 18. Jahrhundert namens Chardin: Er kopiert im Doppelporträt ein typisches Beispiel des Meisters.
Nachdenklich verlässt man das Geschehen. Man fragt sich, wer nun dafür sorgen mag, den von ähnlichem Schicksal betroffenen Topkünstler Frank Auerbach einzuladen, sich in Berlin als seiner Geburtsstadt von 1931 zu zeigen. Die Eltern in Auschwitz vergast, kam er mit dem Kindertransport noch 1939 dahin, wo er zehn Jahre später britischer Staatsbürger wurde. Und er bevorzugt fürs Zeichnen und Malen krasser als Lucian Freud eine expressive Formsprache. Gemeinsam ist beiden die Vorliebe fürs Porträtieren, und damit das Festhalten an der als »figurativ« bezeichneten Menschensicht.
»Closer« ist im Gropius-Bau eine knapp akzentuierte und klar profilierte Ausstellung, ganz dem Menschen in seiner originären Einmaligkeit zugewandt. Aber drei Räume in dem Riesenhaus, was ist das schon? Das mag der ahnungslose Teil des Publikums fragen. Wer vorher oder hinterher in der darunterliegenden ersten Etage des Hauses die nicht enden wollende Flucht einer ganz anderen Ausstellung durchschreitet, wird leicht verwirrt. Wer war der dort gezeigte Wenzel Hablik? Wer kennt den von 1881 bis 1934 lebenden böhmischen Maler und Architekten? »Expressionistische Utopien« sandte er via »Werkkunst« (wie es damals hieß) von Itzehoe im hohen Norden in die Metropole Berlin. Sein kompletter Nachlass nahm jetzt temporär denselben Weg hierher. Eine überraschende Entdeckung oder ein allzu detailliert überfülltes Seh-Angebot?
»Lucian Freud: Closer. Radierungen aus der UBS Art Collection«, bis zum 22. Oktober im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, Kreuzberg
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