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  • Buchmesse Frankfurt/M.

Die inneren Zeitalter

Durs Grünbeins Gedichte erzählen von Unter- und Übergängen

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Existenz? Durs Grünbein hat sie als »Quadratur der Zufälle mittels Atemzügen« bezeichnet. Daraus entstehen Schwermut und Furcht, und also keimt die Frage aller Fragen: »Ist Lebensfreude nicht ein Mysterium?« Ist sie!, so könnte man auch diesen neuen Gedichtband zusammenfassen. Sie ist das Unergründliche, das nicht gänzlich Logische, das nicht absolut Herleitbare.

Durs Grünbein: Zündkerzen. Gedichte.
Suhrkamp, 150 S., geb., 24 €

So wie unergründlich bleibt, was wir bereisen, besprechen, berühren. Landschaften, Lektüren, Lustgegenden und Leidensorte - dieser Dichter durchquert das uns Umfassende mit Augensinn für die geringen Dinge, für rosa Wölkchen, geflügelte Kraken, Tattoos und Artischocken - gleichsam als Tropfenforscher überquert er Ozeane, er steht als Verwandter des Staubkorns am Fuße der Kathedralen. Das Leben? »Die Hälfte ist Stolpern, an falsche Türen Klopfen,/ Weil von außen ein Herz aufgemalt ist.« Er ist ein heiterer Fremder im nichtigen Heute aus Partnerschaftsagenturen und einer Weltenweite, die lügnerisch auf Postkartenständer passt.

Hier schreibt ein Aufgeklärter, dem der hohe Stand des Poetischen, in Jahrtausenden gesät und geerntet, sehr viel bedeutet. Er ist ein Dichter des langen Blicks zurück, wo die Formstrenge des Antikischen herübergrüßt. »Rom ist die Bruchform, die nicht mehr zerbricht:/ In ihr liegt die Gegenwart aufgebahrt ... Mit jedem Jahr wiegt die Ewigkeit schwerer.« Ein »Photopoem« ruft die italienische Hauptstadt auf, ein Langgedicht feiert »Sieben Pinien« - der Baum lehrt uns: »Bleib allein inmitten/ Der Parallelen,/ Beug dich dem Wind,/ Paktiere nie./ Pazifismus pur.«

Illusionslos, aber mitfühlend, schaut Grünbein auf den Menschen, der sich durchs rissige Reale windet und vor einer zumeist verhangenen Welt einfach nur zurechtzukommen hat - und den alle ideologischen Beruhigungsmühen und hybriden Vorwärts-Hymnen schlichtweg verhässlichen. »Technik, der kleine titanische Irrtum, ist/ Nichts, was den Menschen vor sich bewahrt.« Wir entkommen unseren Blößen und Schwächen nicht, nicht der Wahrheit unserer Unwichtigkeit. »Die Kinder,/ Die damals im Zirkus lachten, sind heute Beamte.« Ein armseliger Bettler ist unsereins, wie Luther sagte. Aber in den Versen Grünbeins wirkt der Mensch mitunter doch, als habe er sich sein Gesicht - sehnsüchtig nach Erhabenheit - für stolze Momente aus einem Altarbild entwendet.

Bedichtet werden die Reifenpanne und ein Spatzenpulk, der sizilianische Sommer und Geografie. Ljubljana, Jerusalem, Piräus. Die Sprache schwingt, breitet Flächen aus, schlägt Assoziationsbögen. Diese Lyrik spielt mit der Klugheit, der Belesenheit ihres Autors; der bekennt sich souverän und immer wieder überraschend gleichniserregt zu einer enzyklopädisch befestigten Lust am Denken, am Durchstreifen der Bildungsgüter, so, wie man Weingüter zu deren schönster Zeit durchwandert. Lebensfreude: Sie hat hier schwebende Gründe - so verwandelt Grünbein seine Wahrnehmungen zurück ins Geheimnis.

Besagte antikische Verfasstheit ist nichts weiter als Trotz. Vielleicht sogar Unbelehrbarkeit. Sie nimmt den Vorschlag nicht an, einzig und allein in laufender Gegenwart den entscheidenden Sinnboten zu sehen. Der Alltag, der sich allmorgendlich für neu hält, ist doch nur die kleinste Provinz eines Immerdar. Und also, sagt Grünbein, wächst mir alle Fantasie, wächst mir all mein Bewusstsein zu aus bereits tief Eingelagertem; alles Wesentliche, was sein wird, war doch längst. Ich kehre zurück, sagt die antikische Verfasstheit. Aber nie zu euch Jetzigen, nicht in die »Bananenrepublik des Realen«. Nicht in eure Schnelldurchläufe des sich so rasend Verbrauchenden - sondern dorthin, wo die Inspiration ganz zu sich kommt. Wo überhaupt nur ein Kommen geschieht, einer Quelle ähnlich. Was sprudelt, ist freilich immer auch banges Fragen: »Wissen wir, wo wir erwachen in einer Nacht,/ Tief in der Zukunft?«

Grünbeins Verse bauen keine Bilder, sie philosophieren. Sie provozieren: »Glück ist das Funktionieren« oder: »Es sind die Gewohnheiten, die uns töten« oder: »Einsamkeit war die Menge, die jeder teilte«. Der Dichter tastet sich durch »die inneren Zeitalter« im Menschen, »jedes/ Ich ist zwischen den Zeiten, den Zeilen/ Ein Übergang lebenslang.«

Ein Prosatext ruft Zoobesuche mit der jüngsten Tochter auf (»Unsere Jahre im Zoo« hießen die Kindheitserinnerungen des Dresdners); aus der Ansicht des Affenhauses etwa erwächst bezwingendes Nachdenken über Menschwerdungen. »Manchmal fühle ich stark mein eigenes Zootierdasein«, im »Gehege der großen Städte«. Was wir bauen, entwickeln, festlegen, kombinieren (auch in Paarungen): »Präzision der Verfehlung«. Er bleibt der Glaubwürdigste, der vom Leben erzählt: der Vergänglichkeitskenner. Hans-Dieter Schütt

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