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Wann ist die Grenze überschritten?

Der schwedische Mathematiker Per Molander analysiert Geschichte und Gegenwart der sozialen Ungleichheit

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Mensch mag von Natur aus weder gut sein noch böse. Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft aber ist nicht nur die Geschichte von Klassenkämpfen, sondern auch die sozialer Ungleichheiten. Bei allen Erfolgen der Arbeiterbewegung seit dem 19. Jahrhundert hat sich bis heute nichts wesentlich verändert am obszönen Reichtum, dem eine überwältigende globale Massenarmut entgegensteht. Die britische Entwicklungshilfeorganisation »Oxfam« hat errechnet, dass die 85 reichsten Individuen der Welt über ebenso viel Eigentum und Vermögen verfügen wie die ärmere Hälfte der Erdbevölkerung - das sind gut 3,5 Milliarden Menschen.

Per Molander: Die Anatomie der Ungleichheit. Woher sie kommt und wie wir sie beherrschen können.
A. d. Schwed. v. Jörg Scherzer. Westend, 224 S., geb., 24 €

Eine Statistik, die unserer Spezies in ethischer Hinsicht kein allzu gutes Zeugnis ausstellt. Wer herausfinden will, warum die ökonomischen Verhältnisse so brutal beschaffen sind, sollte sich aber nicht zuerst die beliebte Frage stellen, wo die Ursachen für die soziale Ungleichheit liegen. Wesentlich sinnvoller erscheint das Rätsel, warum es jenseits aller Kämpfe politischer und wirtschaftlicher Systeme immer wieder historische Phasen und Gemeinwesen gibt, in denen das Pendel deutlich in die Richtung der Gleichheit ausschlägt. Für diesen grundlegenden Perspektivwechsel plädiert Per Molander in seinem gerade auf Deutsch erschienenen Buch »Die Anatomie der Ungleichheit«, dessen Untertitel zu erklären verspricht, »woher sie kommt und wie wir sie beherrschen können«.

Dabei geht der schwedische Mathematiker vor wie ein Mediziner. Er seziert den Gesellschaftskörper, vergleicht und diagnostiziert, vor allem aber stellt er dem Patienten eine gute Prognose, sofern er sich an die auf der Hand liegende Therapie hält. Molander war für die schwedische Regierung in Reformprojekten im Bereich der Sozialpolitik aktiv, er beriet die Weltbank, den IWF und die Europäische Kommission in Verteilungsfragen. Sein realpolitischer, nüchterner, pragmatischer Ansatz erklärt sich so, denn der Autor hält ein gewisses Maß an sozialer Ungleichheit für unvermeidbar.

Jeder Waren- und Marktaustausch, so Molander, zeitige einen selbstverstärkenden Effekt. Der Autor beschreibt das mithilfe einer unter Wirtschaftswissenschaftlern gern genutzten kulinarischen Metapher: Wenn zwei Parteien um die Verteilung eines Kuchens verhandelten und beide gleich stark seien, so das Gedankenexperiment, dann bekomme in der Theorie jeder exakt die Hälfte. Die Wahrscheinlichkeit aber sei hoch, dass sich im Laufe der Verhandlungen eine Seite als cleverer, mächtiger oder gewiefter erweise. Dieser Effekt verstärke sich anschließend bei jeder neuen Verhandlung.

Molander belegt seine Analyse mit einem kurzen Rundgang durch die Geschichte der sozialen Ungleichheit. Von relativ egalitären Jäger- und Sammlergesellschaften leitet er über zur römischen und griechischen Antike, die extreme soziale Ungleichheit kannten, dafür aber nur sehr wenige Hungersnöte. Ganz im Gegensatz zum mit großem Elend gepflasterten europäischen Mittelalter. Die Geschichte, so Molander, verlaufe nicht linear, dennoch gebe es vor allem seit dem Beginn des Kapitalismus ein Muster zunehmender sozialer Ungleichheit unter den Menschen.

Die einzige Ausnahme datiert Molander auf den Anstieg des Wohlstands im 20. Jahrhundert, der unter anderem dank gewerkschaftlicher Organisierung und dem Ausbau des Wohlfahrtsstaats möglich geworden sei. Nicht erst seitdem, aber spätestens von diesem Zeitpunkt an bewege sich der entwickelte Kapitalismus speziell in seiner formal demokratischen Erscheinungsform entlang einer sensiblen Demarkationslinie: »In Gesellschaften mit einem größeren Produktivitätsüberschuss werden die Machtunterschiede zwischen Besitzenden und Ressourcenschwachen vom Interesse der Besitzenden begrenzt, die weniger gut Gestellten am Leben und einigermaßen arbeitsfähig zu halten.«

Wer diesen Abriss liest, will sofort noch mehr erfahren und noch intensiver einsteigen in die Geschichte der sozialen Ungleichheit. Um historischen Tiefgang geht es Per Molander in seinem Buch aber nicht. Er will ausloten, wie sich Kapitalismus und Demokratie einander wieder annähern können. Visionen oder gar Utopien kann er offenbar wenig abgewinnen. Er bewegt sich streng innerhalb der vorgegebenen Logik und vertraut darauf, dass die Besitzenden ihre Grenze der überbordenden Ungleichheit nicht überschreiten.

In diesen Passagen liest sich Molanders Buch wie die faktengesättigte Version eines Gedichts, das Erich Kästner am Vorabend der Inthronisation des deutschen Nazi-Faschismus geschrieben hat. In seiner »Ansprache an die Millionäre« warnte er die Reichen: »Warum wollt ihr so lange warten, / bis sie euren geschminkten Frauen / und euch und den Marmorpuppen im Garten / eins über den Schädel hauen? // Warum wollt ihr euch denn nicht bessern? / Bald werden sie über die Freitreppen drängen / und euch erstechen mit Küchenmessern / und an die Fenster hängen.«

Solcherlei Glaube an die Vernunft im Kapitalismus mag mancher als gutgläubig und realitätsfern betrachten. Zumal aktuell so viele Menschen verhungern, dass Molanders beschränkte Sicht auf die vermeintlich zur Einsicht fähigen Machtvollen jene Grenze vergisst, die aus der Perspektive der um ihr täglich Brot kämpfenden Besitzlosen längst überschritten ist. Da verwundert nicht, dass Molander bei seinem Gang durch die Ideengeschichte der Ungleichheit nur pro-kapitalistische Denktraditionen berücksichtigt.

In diesem, dem besten Teil seines Buches jedoch gelingt es dem Forscher, einen konzisen Einblick in konservative, liberale und sozialdemokratische Haltungen zu diesem Menschheitsthema zu bieten. Mit dem Konservatimus hat er es am leichtesten. Die bewahrenden Kräfte erachten Ungleichheit als in der Natur des Menschen verankert und als notwendiges Funktionsprinzip jeder Gesellschaft. Dabei berufen sie sich besonders gerne auf die Religion: Im Christentum und im Islam sei eine Linderung der sozialen Ungleichheit nur durch freiwillige Almosen der Begüterten denkbar, niemals aber als zentrale Aufgabe eines kollektiven Gebildes wie des Staates.

Mit dem Liberalismus sei es komplizierter. Dort werde die soziale Ungleichheit nicht als gottgegeben akzeptiert, die positiven Seiten einer ungleichen Gesellschaft überwiegen für Liberale aber jene eines egalitären Gemeinwesens. Ungleichheit erscheine hier, obgleich durch die Empirie widerlegt, noch immer als logisches Marktergebnis aufgrund individuell unterschiedlicher Ausstattung mit Begabungen und Arbeitswilligkeit. Im Kampf zweier eherner Prinzipien gewinne im Liberalismus immer die Freiheit gegen die Gerechtigkeit.

Letztere sei in diesem Theorietrio nur der Sozialdemokratie wirklich wichtig. Molander beschreibt, dass diese Ideenrichtung die besten Mittel parat hat, um die soziale Ungleichheit im Kapitalismus zu verringern. Über die Sozialdemokraten beantwortet Molander schließlich auch überzeugend seine Frage, warum in manchen Gegenden wie etwa Skandinavien die soziale Ungleichheit geringer ausfällt als in anderen. So viel sei verraten: Laut Molander hat das auch mit dem Vertrauen der Bevölkerung in die Eliten zu tun - einem Vertrauen, das ausgerechnet die europäische Sozialdemokratie seit Jahren immer weiter verspiele.

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