Verhandelt ihr noch oder regiert ihr schon?

Eine Vier-Parteien-Koalition übernimmt die politischen Geschäfte in den Niederlanden

  • May Naomi Blank, Nijmegen
  • Lesedauer: 3 Min.

Gibt es eine neue Regierung oder nicht? Oder auf Niederländisch: »Is er al'n kabinet?« - das ist der Name eines hiesigen Twitteraccounts mit über 23 000 Follower. Und die Frage, die das Land beschäftigte. Anonyme Quellen leakten vergangene Woche Informationen über die Regierungsvereinbarungen. Die Opposition lief Sturm. Wer morgendlich Twitter checkte, bekam eine einfache, aber akkurate Berichterstattung. »Nein«, hieß es da täglich auf die Frage, ob es schon so weit sei. Bis »Is er al 'n kabinet?« am Sonntag vermeldete: »Beinahe«. Nach 207-tägigen Regierungsverhandlungen wurden den Fraktionen am Montag schließlich die Koalitionsvereinbarungen vorgelegt. Am Dienstag arbeiteten sie letzte Änderungen ein. Am Mittwoch gibt Ex-Minister Gerrit Zalm, der die Koalitionsgespräche geführt hatte, ein Pressekonferenz, um die Resultate bekannt zu machen. Die längsten Koalitionsverhandlungen, die es in der niederländischen Geschichte gegeben hat: Was haben sie gebracht?

Da vier Parteien am Verhandlungstisch saßen, mussten alle Koalitionspartner Kompromisse eingehen. Erstens werden Steuerabzugsberechtigungen für den Häuserkauf abgebaut. Das schmerzt besonders die VVD, die Partei des Premiers Marc Rutte, die ihrer Wählerschaft in der Wahlkampagne »Ruhe an der Häuserfront« versprochen hatte.

Zweitens will die neue Regierung den Cannabisanbau unter staatlicher Aufsicht legalisieren. Bislang war der Konsum von Cannabis für Volljährige legal, der Verkauf wurde geduldet und strafrechtlich nicht verfolgt. Die Produktion sowie der Import war jedoch illegal, wodurch ein krimineller schwarzer Markt für die Zulieferung an Coffee Shops entstand. Die christlich-konservative CDA hatte sich jahrzehntelang gegen diesen Schritt gesperrt, stimmte nun aber unter der Bedingung zu, dass die Regierung 100 Millionen Euro in die Bekämpfung von Drogenkriminalität stecken wird.

Drittens erhöhen sich die Monatsbeiträge der Krankenversicherung. Das sogenannte Eigenrisiko - ein Sockelbetrag, den Patienten selbst zahlen - wird nicht verringert, wie von der CDA und der Christen Unie gefordert. Schließlich machte die liberale Partei D66 asylpolitische Kompromisse und zog ihre Forderung nach einer Ausweitung der »Kinderpardon-Regelung« zurück. Sie erlaubt Asyl suchenden Kindern, die bereits mehr als fünf Jahre in den Niederlanden wohnen, einen Verbleib im Land. Dafür wird der Vaterschaftsurlaub von zwei auf fünf Tage erhöht.

»Vertrauen in die Zukunft«, so lautet das Motto des neuen Kabinetts, dass sich als Vertreter der Mitte positionieren will. So mittig sind die Eckpunkte des Papiers aber dann doch nicht. Die Unternehmenssteuer soll verringert werden, während der niedrigste Mehrwertsteuersatz angehoben wird. Das Arbeitsrecht soll arbeitgeberfreundlicher werden. Der Studienkredit bleibt die meist verbreitete Form der Ausbildungsförderung. Flüchtlingen mit Aufenthaltserlaubnis soll in den ersten zwei Jahren das Recht auf Sozialleistungen entzogen werden. Der Regierungsakkord trägt einen liberal-konservativen Stempel.

Die Koalitionsvereinbarungen wurden zwar präsentiert, doch gibt es noch kein neues Kabinett. Der Regierungsbildungsprozess dauert wahrscheinlich noch bis zum 23. Oktober. Die neu gewählten Parlamentarier werden einen Politiker mit der Regierungsbildung beauftragen, wahrscheinlich den amtierenden Premier Marc Rutte. Dieser schlägt Minister und Staatssekretäre vor. Schließlich werden alle vom König vereidigt. Auf Twitter wird schon darüber gewitzelt, wie lang sich die neue Regierung halten wird. Der neue Twittertrend wird dann heißen: »Gibt es noch ein Kabinett?«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.