Zwischen Poesie und Analyse
Zum Abschied von der Berliner Zeichnerin und Malerin Ellen Fuhr
Das Bild eines urbanen Stadtraums, heutig und zugleich imaginär: eine dynamische Szenerie spitzwinklig oder geradlinig verschränkter Architekturfragmente. Mittendrin ein Passant, gedankenversunken auf dem Weg nach irgendwohin. Dort, wo die U-Bahn dem Berliner als Hochbahn begegnet, ist es quirlig eng. Ellen Fuhr malte mit klarer Kontur und Farbgebung im gewohnt expressiven Gestus die spannende, zerrissene Raumsituation der Metropole.
Gegenwärtig ist das Bild im Kabinett der Galeristin Helle Coppi in der Berliner Auguststraße 83 zu sehen. Sie hatte es ganz bewusst für ihre Ausstellung gewählt. Die Kunde vom Tod der Künstlerin traf sie wie viele Freunde und Weggefährten Ellen Fuhrs unerwartet. Die Berliner Zeichnerin und Malerin starb am 19. September im Alter von 58 Jahren und wurde im engsten Familienkreis beigesetzt. Lange war sie in der Öffentlichkeit aktiv geblieben, plante mit der Galerie Forum Amalienpark ein wichtiges Ausstellungsprojekt. Und doch hat sie den Kampf gegen die tückische K-Krankheit verloren.
Ellen Fuhr war eine agile, akribische Bildermacherin, die Themen und Motive energiegeladen und mit kühlem Kopf ausführte. Ihre Werke gleichen einem »Laboratorium des Geistes«, mit Zonen äußerster Bewegtheit, aber auch von sinnlich-subtiler Nachdenklichkeit.
Zwei Dinge sind es, mit denen sie fast vier Jahrzehnte lang in der zeitgenössischen Kunstszene präsent war: vibrierende Stadtlandschaften, oft mit dem Kolorit ihrer Heimat Berlin, und Köpfe von Menschen, die sie gut kannte oder die ihr nahestanden. Modelle fand sie im Familien- und Freundeskreis oder imaginär in Geschichte und Literatur. Sie schuf einprägsame Gesichter und Gesten, tief berührend oder skurril provozierend.
Mit entschärfter Kunst wollte Ellen Fuhr nichts zu tun haben. Im Jahr 2000, nach einem Aufenthalt in Spitzbergen, notierte sie: »Reale Fluchtwege gibt es leider nicht, auch nicht zu Polen. Die einzige Möglichkeit bleibt die Auslotung individueller Pole im eigenen Kopf, oder auch die kritische Frage nach dem Gegenpol. Das Zeitpendel schwingt, am Ende steht der Tod.«
Ellen Fuhr stammte aus einer naturwissenschaftlich verorteten Familie, fast alles Physiker, vom Großvater und Nobelpreisträger Gustav Hertz über den Großonkel Heinrich Hertz bis zum Bruder und zu ihrem Mann, dem Biophysiker. Sie selbst studierte an der Dresdner Hochschule für Bildende Künste bei dem Zeichner Gerhard Kettner, wurde dessen Meisterschülerin an der Akademie der Künste der DDR. Sie arbeitete ausnahmslos schwarz-weiß, zeichnete, radierte. Dann kam die Wende, plötzlich war das Figürliche verpönt, Druckgrafik wollte keiner kaufen. Fuhr blieb im klassischen Format, eroberte sich nun mit Acryl oder in Öl Leinwände, zeichnete mit Tusche und Acryl auf Papier.
Ellen Fuhr war auch Gründungsmitglied der Galerie Forum Amalienpark. Die verbliebenen Kolleginnen und Kollegen vermissen sie schon jetzt. »Sie hat 20 Jahre Impulse gesetzt und Visionen eröffnet. Vieles wäre ohne ihren Beitrag und ihre künstlerische Haltung nicht von solcher Strahlkraft gewesen«, schreibt die Künstlergruppe zum Abschied auf ihrer Homepage.
Ihre letzten Arbeiten werden ab 24. November in dieser Galerie in Pankow zu sehen sein. Wie elf andere Künstler arbeitete sie zu Schuberts Liederzyklus »Winterreise«, diesem zeitlosen Werk der Romantik, das über Jahrhunderte und Kulturen hinweg so viele Metaphern für Abschied, Scheitern, Erstarrung und neue Sinnsuche enthält. Noch einmal Bildwelten voller subjektiver Deutung zwischen Poesie und Analyse.
Ab 24. November in der Galerie Forum Amalienpark
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