Die Lüge von der Wahrheit
Man kann einer Wahrheit vielleicht nahekommen, aber nie die eine ganz erfassen - auch Medien können das nicht
Der »Spiegel« plakatiert derzeit, dass er die Wahrheit nicht gepachtet habe – aber er suche nach ihr. Klingt sympathisch, ein bisschen demütig. Allwissende hat nämlich keiner lieb. Gleichzeitig muss man dieses Werbeplakat als Gegenoffensive begreifen. Wie so vieles, was sich derzeit in den Medien so ereignet. Überall Faktenchecks und Wahrheitssuche. Nachdem in den letzten Jahren die Medienkritik lauter und lauter wurde und mit »Lügenpresse, Lügenpresse!«-Rufen ins rechte Lager hinüberglitt, musste man ja wohl oder übel auch die journalistische Arbeit ein bisschen transparenter machen oder wenigstens Charmeoffensiven einleiten. Ganz nach dem Motto: Wir lügen doch nicht – unser Geschäft ist die Wahrheit. Das aber ist ganz schön dick aufgetragen.
Das Gegenteil der Lüge ist die Wahrheit. In der Theorie stimmt diese Gegenüberstellung durchaus. In der Praxis, insbesondere auch in der journalistischen Praxis, ist die Sache nicht ganz so klar. Wahrheit – was ist das? Wer kennt sie, wer hat sie? Ist die Lüge nicht einfach eine falsche Wahrheit? Wenn man, so wie der »Spiegel« oder etwaige Fernsehanstalten nach ihr sucht, wer weiß denn bitte ganz genau, wann er sie gefunden hat? Auf der Wahrheit klebt ja kein Schild, auf dem »Wahrheit« steht. Die Wahrheit ist kein feststehender Begriff, sondern eine Konstruktion und ein menschliches Konzept des Faktenabgleichs. Exakte Wissenschaft ist sie nicht. Man kann einer Wahrheit vielleicht nahekommen, aber nie die eine ganz erfassen.
Wenn zwei Personen in einem Dialog um eine Wahrheit ringen, sagt der eine zum anderen gerne mal: Das ist Ansichtssache. Was nach einem resignativen Ausruf klingt, der fehlende Argumente kaschieren soll, ist »in Wahrheit« aber ein bisschen mehr: Nämlich eine gesunde Einschätzung des Wahrheitsbegriffs. Sie ist nämlich Ansichtssache. Meine Wahrheit ist nicht die Wahrheit des Lesers. Erinnert sei außerdem ganz obligatorisch an Platons Höhlengleichnis, an die Verwechslung von Schatten mit Körpern. Oder daran, wie sich mancher Gegenstand optisch zu verändern scheint, wenn man vier, fünf Schritte in seiner Betrachterposition verändert. Jeder Blick darauf birgt ja eine Wahrheit. Welche ist wahrer als die andere?
Selbstverständlich taugt nicht alles als Wahrheit. Das Gegenteil einer möglichen Wahrheit ist eine Lüge und keine Ansichtssache mehr. Sonst gleitete man ja in den Nihilismus ab. Wahrheit wird durch Konventionen und Prämissen geerdet. Nietzsche nannte die Wahrheit daher mal »ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen […] die nach langem Gebrauche einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken«. Ohne diese Grundlage gäbe es keine Wahrheit für den Menschen – ein schwieriger Zustand für die menschliche Gattung, denn ohne Wahrheiten mündete man in die blanke Sinnlosigkeit. Nietzsche ging dem Konzept in seiner Schrift von 1873 »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne« nach, was schon dokumentiert, dass die Wahrheit immer auch ein moralischer Begriff sein muss.
Denn der Lügner ist so unmoralisch wie der Wahrhaftige moralisch. Über den Umstand, dass wir gerne von der Wahrheit im Singular sprechen, obgleich man sie in Plural denken muss, sagt diese ethische Kategorisierung allerdings nichts aus. Man sollte den Journalisten übrigens nicht unterstellen, dass sie bewusst unmoralisch im Sinne der Lüge waren – Zeitdruck und redaktioneller Konformismus spielten hinein, eine schnelle Headline, eine übertönende Schlagzeile im Gewirr anderer Meldungen: Das behinderte, dass man den Wahrheiten da draußen richtig auf die Spur gehen konnte.
Wenn der Qualitätsjournalismus nun aber immer stärker in die Charmeoffensive geht, um den Vorwürfen Lügen verbreitet zu haben, mit der Wahrheit zu begegnen, dann muss man das als die erste wirklich beabsichtige Lüge dieser Medien deklarieren: Denn die Wahrheit im Singular, die hat keiner. Man kann sie nicht suchen. Man kann bestenfalls einem »beweglichen Heer« etwaiger Wahrheiten nahekommen.
In diesem Sinne wünsche ich mir keine überambitionierte Presse, die stolz von der Wahrheit spricht. Mir reicht es ein bisschen abgespeckt. Mir würde eine Presselandschaft reichen, die sich bemüht bestimmte Umstände vielseitig zu beleuchten, um etwaige Wahrheiten daran zu entdecken. Ich suche mir dann das aus, was ich mir als wahr vorstellen kann. Doch diese Praxis unterbleibt heute weitestgehend, man sucht eindimensional nach der einen Wahrheit und das ist die ganz große Lüge unserer Zeit.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.