- Kultur
- Oktoberrevolution
Die ganze alte Scheiße
Was hatte der Oktober 1917 in Russland mit Karl Marx zu tun? Bemerkungen zu einem kritischen Revolutionsbegriff.
Was hätte Marx zur Oktoberrevolution in Russland gesagt? Eine Antwort auf die Frage muss einen kleinen Umweg machen: Der Alte aus Trier verstand sein Wirken als gesellschaftsveränderndes Eingreifen - und die Ereignisse des Jahres 1917 in Russland waren von diesem Verständnis einer Einheit von Theorie und Praxis geprägt.
Unwesentlich ist dabei, ob Marx »das so gemacht hätte« oder gar, ob er eine Art intellektuelle oder politische Verantwortung für die Revolution gehabt haben könnte - Fakt ist, dass viele Befürworter und Kritiker, Aktivisten und Zuschauer von damals ihre Positionen aus dem Marxschen Schaffen bezogen.
Der selbst betrachtete die Praxis als Prüfstein der Theorie. Man kann die Frage stellen, inwieweit die Ereignisse von 1917 die theoretischen Ansichten von Marx bestätigen oder nicht, an welchen Stellen sie keine Antworten mehr geben konnten, wo sie entwicklungsbedürftig waren. Aber Marx ohne 1917 oder 1917 ohne Marx zu diskutieren erscheint unmöglich.
Um dieses Problem zu diskutieren, beginnen wir mit einem Gemeinplatz: Um gesellschaftliche Umbrüche und ihre Folgen bewerten zu können, muss man wissen, welche Ursachen ihnen zu Grunde liegen. Das Werden einer revolutionären Situation erklärt uns, erstens, welche Möglichkeiten im Alten geschaffen wurden, zweitens, welche Akteure in welcher Weise handeln und drittens, welchen Grenzen dieses Handeln unterworfen ist.
Der Verlauf der Revolution selbst erklärt sich daraus aber nur zum Teil. Indem soziale Akteure und Individuen ihre bisherige Stellung in der Gesellschaft verlassen oder aus dieser Stellung verdrängt werden, löst sich das Geschehen von den Ursachen.
Wenn im Zuge revolutionärer Ereignisse die materiellen Grundlagen der Gesellschaft verändert oder auch zerstört werden, können sich die ursprünglichen Ziele der Akteure, wie auch ebenso die Möglichkeiten folgender Entwicklungen verändern. Die Rolle einzelner sozialer Gruppen verändert sich, möglicherweise entstehen sogar neue Akteure. Es gibt also keine Linearität - das galt für alle bürgerlichen Revolutionen, das gilt bis heute für jede Revolution, auch für die Revolutionen in Russland 1917.
Im Verlaufe der Revolution verliert sich in der Unübersichtlichkeit der Ereignisse das Bewusstsein ihres Ausgangspunktes, er verliert an Bedeutung. Nach der Realisierung des ersten Schrittes, meist des Sturzes einer bestimmten Regierung, beginnt ein gesellschaftlicher Suchprozess, da etwas geschaffen werden muss, was es noch nicht gab. Es geht nicht um die Fortsetzung des Alten in neuer Form, sondern der Inhalt und die Formen gesellschaftlicher Entwicklungen verändern sich gleichzeitig. Dabei wird sich manchmal das Neue in alten Formen präsentieren.
In diesem Sinne müssen Revolutionen immer über das, was im gegebenen Moment möglich ist, hinausgehen, sie müssen einen Überschuss an neuen Ideen, Praxen und Projekten hervorbringen und auf ihre Anwendbarkeit prüfen. Dabei werden die Revolutionäre von gestern schnell zu Verrätern im Heute - tatsächlich oder in Wahrnehmung der Handelnden. Das alles gilt in höchstem Maße gerade für Revolutionen, in denen es nicht um die Ersetzung einer herrschenden Klasse durch eine andere geht, sondern die die menschliche Emanzipation in den Mittelpunkt stellen. Und das war der entscheidende Bezugspunkt für Marx.
Viele der Aktivisten von 1917 verstanden sich als Marxisten oder waren in diesem Sinne geschult worden. Nicht nur Plechanow und Lenin bezogen sich auf Marx, auch Aktivisten aus den Reihen der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre taten das. Diese Bezugnahmen waren gelegentlich auch kritisch oder ablehnend - aber sie waren für Konzepte und Praxen wichtig. Nicht zuletzt gründeten sich die Reaktionen auf die Revolutionen unter den Sozialdemokraten der II. Internationale auf ein bestimmtes Verständnis des Marxschen Ansatzes.
Daher ist es angebracht, an dieser Stelle einige Bemerkungen zur Sicht von Marx auf Revolutionen zu machen. Der hielt 1852 fest, proletarische Revolutionen »kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar vollbrachte zurück, um es wieder von Neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche«.
Dieser Gedanke aus dem »Achtzehnten Brumaire« ist konstituierend für das Marxsche Revolutionsverständnis. Einer proletarischen Revolution muss das Moment der Selbstkritik immanent sein. Er baut damit einen Gedanken aus den Feuerbachthesen von 1845 aus. Dort heißt es, »die materialistische Lehre, dass die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergisst, dass die Umstände eben von den Menschen verändert werden und dass der Erzieher selbst erzogen werden muss. Sie kommt daher mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft in zwei Teile zu sondern, von denen der eine über der Gesellschaft erhaben ist (z.B. bei Robert Owen). Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefasst und rationell verstanden werden.« Die »Erziehung der Erzieher« in der Praxis, die Ablehnung von »Erhabenheit« werden hier problematisiert und hohe Maßstäbe an die Qualitäten revolutionärer AktivistInnen formuliert.
Ein weiteres Moment des Marxschen Revolutionsverständnisses ist wichtig: die Frage der materiellen Voraussetzungen. Marx sah einen hohen Entwicklungsstand der Produktivkräfte als zentrale Voraussetzung für den Erfolg einer proletarischen Revolution an. In »Zur Kritik der Politischen Ökonomie« schreibt er 1859: »Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.«
Bereits in der »Deutschen Ideologie« stellten Marx und Engels fest, dass ein hoher Entwicklungsstand der Ökonomie unabdingbar für eine nachkapitalistische Gesellschaft sei, weil andernfalls »nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen müsste«. Er thematisiert also hier die Grenzen von proletarischen Revolutionen - ein Gedanke, den er in der »Kritik des Gothaer Programms« ausbaut.
Im Jahre 1881 sieht er drei Faktoren, die für den Ausbruch einer »wirklich proletarischen Revolution« wesentlich sind: die wissenschaftliche Einsicht in gesellschaftliche Prozesse, der Druck der Regierungen auf die Lage der Massen und die Entwicklung der Produktionsmittel. Das sei die Bürgschaft, dass die Revolution auch die nächsten (er setzt hinzu »wenn auch sicher nicht idyllischen«) Schritte bestimmen könnte.
Es zeigt sich also, dass Marx‘ Revolutionsverständnis bedeutend komplexer war, als das ihm oft zugeschrieben wird. Er betonte die absehbare Widersprüchlichkeit und möglichen Grenzen des Machbaren im Moment des Umsturzes. Die proletarische Revolution ist ihm, wie auch die bürgerliche, ein langfristiger Prozess, der mit einem Akt, der für sich in Anspruch nimmt, die Machtfrage geklärt zu haben, nicht zu Ende ist. Als Michail Gorbatschow 1987 erklärte, dass die Revolution weitergehe, verstieß er damit gegen ein Jahrzehnte altes Dogma…
Das Problem der Grenzen wird offensichtlich, wenn wir die Situation in Russland zu betrachten haben. Und diese Grenzen waren auch Ausgangspunkt der Kritik an der revolutionären Strategie der Bolschewiki, namentlich Lenins, in Marxscher Tradition - zum Beispiel durch Rosa Luxemburg. Sie beschreibt die Situation der russischen RevolutionärInnen als Dilemma: Die Verhältnisse sind in der Realität »reif« - die Massen müssen die Macht ergreifen, soll das Land nicht in tiefe Reaktion zurückfallen; die Verhältnisse sind aber gleichzeitig eben noch nicht »reif« - der Umsturz hat eine Massenbasis, der Sozialismus hat eine solche aber nicht.
Was bedeutet in dieser Situation »Selbstkritik« und »sich Unterbrechen« der Revolution? Für Lenin und die Bolschewiki hieß das erst einmal, durchzuhalten und auf die Revolution »im Westen« zu warten. Aus diesem Warten wurde dann aber schnell der Versuch, sie von außen zu beschleunigen. Das Konzept scheiterte. Die einsetzende Kritik und Selbstkritik wendete sich schnell, eigentlich schon 1918, in eine Legitimierung des revolutionären Aktes von 1917 um jeden Preis, ohne das Dilemma auszusprechen und die Grenzen des Momentes ernst zu nehmen.
Die fehlenden Voraussetzungen für die Vollendung der Revolution sollten nun mit Hilfe des proletarischen Staates geschaffen werden; genauer: Dieser Staat sollte die Stütze sein, die der Schaffung sozialistischer Verhältnisse durch die Gesellschaft eine Basis geben sollte. Der entstehende Staat war dazu aber nicht in der Lage, wie sich Ende der 1980er Jahre endgültig mit seinem Zusammenbruch bestätigen sollte.
Das in der oben zitierten Feuerbach-These beschriebene Problem einer Praxis, die Menschen die Möglichkeit gibt, sich entsprechend der von ihnen selbst veränderten Umstände zu verändern und gleichzeitig die »Erzieher« in diese Umwälzungen organisch einschließt, konnte nicht gelöst werden. Der in der Feuerbachthese intendierte permanente Rollenwechsel von »Erziehern« und »Erzogenen« fand nicht statt, das System erstarrte in einem Gegeneinander der beiden Seiten.
Rosa Luxemburg griff den konsequent internationalistischen - oder man kann auch sagen globalen - Standpunkt Marx‘ auf und leitete daraus eine doppelte Kritik ab: Die vernichtende Kritik an der deutschen Sozialdemokratie, die sich als unfähig erwies, den Schritt zu einer proletarischen Revolution zu gehen, und damit die russische Revolution zu einer wirklich sozialistischen zu machen; dementsprechend falle der deutschen Sozialdemokratie die Hauptverantwortung an dem Niedergang der russischen Revolution zu; und die Kritik an den Bolschewiki, die sich aus ihrer Sicht als unfähig erwiesen, den emanzipatorischen Geist der proletarischen Massenbewegung konsequent zu bewahren.
Sie stellte nie das redliche Bestreben der revolutionären AkteurInnen in Frage - aber konstatierte das Dilemma: an die Stelle der handelnden Massen trat eine Kaderpartei, genauer ein Parteiapparat. Die Geschichte sollte ihr, unbesehen vieler emanzipatorischer Ansätze im Realsozialismus, Recht geben.
Der Beitrag erschien in einer längerem Version auch im Portal marx200.org, das sich mit dem Dreifachjubiläum 150 Jahre »Das Kapital«, 100 Jahre Oktoberrevolution und 200 Jahre Karl Marx befasst.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!