Kein betreutes Saufen
Der Treffpunkt »Kompass« in Hannover bietet Menschen mit Alkoholproblemen Beratung
Scheppernd rollt eine leere Bierdose die breite Steintreppe hinter Hannovers Hauptbahnhof hinab. Ein Mann, der seine Habe in Plastiktüten mit einem Einkaufswagen vor sich her schiebt, hat die Büchse weggeworfen. Sie landet auf einem Plateau, das zum Raschplatz gehört, einem Areal, das noch nie zu den Visitenkarten der niedersächsischen Landeshauptstadt gezählt hat.
In der Nachkriegszeit warteten hier Kaschemmen und Prostituierte in finsteren Winkeln auf Kundschaft. Sie mussten Platz machen für Büros, Hotels, Clubs und eine Spielbank. Das Ensemble wirkt kalt, seelenlos, nüchtern. In den vergangenen Jahren hat sich dann eine zumeist nicht ganz nüchterne Klientel den Raschplatz zum Treffpunkt gewählt: Menschen, die der Alkohol im Griff hat, denen das Terrain hinterm Bahnhof fast schon zur Bleibe geworden ist, manche schlafen hier in irgendwelchen Ecken.
Ein Alkoholverbot müsse her für den Raschplatz, wegräumen möge man die »Säufer«, forderten auf Sauberkeit und Ordnung pochende Bürger. Doch damit fanden sie kein Gehör bei der Stadt Hannover. Sie suchte stattdessen nach einer Lösung, die »beiden Seiten« gerecht wird - und fand sie zusammen mit dem Diakonischen Werk der evangelischen Kirche: einen Rückzugsraum für die Menschen vom Raschplatz.
»Kompass« heißt die unlängst im Erdgeschoss des Spielbankhauses eröffnete Einrichtung. Zunächst ist das Projekt auf ein Jahr begrenzt. Eine halbe Million Euro hat die Stadt dafür bereitgestellt und hofft, dass Hannover ähnlich gute Erfahrungen macht wie sie etwa Dortmund, Kiel und Berlin-Spandau mit ähnlichen Räumlichkeiten gesammelt haben.
Der Name »Kompass« ist Programm. Soll doch versucht werden, den Menschen vom Raschplatz auch Orientierung zu geben, vielleicht in Richtung eines Lebens ohne Alkohol. Denn es sind Frauen und vor allem Männer, die zum Teil durch massiven Alkoholmissbrauch gezeichnet sind. Mit der neuen Einrichtung wird ihnen so etwas wie ein Schutzraum angeboten und zugleich Beratung. Sie soll den Besuchern unaufdringlich Alternativen zur bisherigen Lebensgestaltung aufzeigen: durch Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, die sich in vielen Problemfeldern auskennen, Kontakte zu Sucht-, Schuldner- oder Migrationsberatung herstellen und auch zu Ansprechpartnern in puncto Wohnungssuche.
Fünf Betreuungskräfte wirken mit im »Kompass«, zum Teil haben sie polnische und russische Sprachkenntnisse. Das ist sehr wertvoll, freut sich Diakoniepastor Rainer Müller-Brandes, denn: Zur Raschplatzszene gesellen sich zunehmend Zuwanderer aus Osteuropa, die aus Enttäuschung über die soziale Realität in Deutschland zur Flasche greifen. Vom Missbrauch des Alkohols ist es dann oft nicht weit bis zur Abhängigkeit.
Ein Problem, das präsent ist im »Kompass«. Er ist kein Trockendock, in dem jedem Besucher schon an der Tür der Flyer einer Entgiftungsklinik in die Hand gedrückt wird. Aber er ist auch kein »Trinkraum«, in dem sich die Raschplatzleute wettergeschützt mit Wodka abfüllen. Wer will, kann seine Dose Bier oder ein Weinfläschchen mit in den Treffpunkt nehmen und dort trinken. Spirituosen aber sind verboten.
Doch das Wort Trinkraum, das als Arbeitstitel im Vorfeld des Projekts zu hören war, hat falsche Vorstellungen geweckt, wie Kommentare in sozialen Medien zeigen. »Betreutes Saufen« vermutet da jemand, mehrmals taucht der Terminus »Säuferbude« auf. Aber wer im »Kompass« eine grölende, torkelnde Schar erwartet, sieht stattdessen hinter der Tür an Tischen sitzende Männer, die miteinander reden, Zeitung lesen, sich mit Halma und anderen Brettspielen beschäftigen. Die meisten Besucher haben Kaffeetassen vor sich, hier und da ist auch eine Bierdose zu sehen. Sichtbar betrunken ist hier niemand in dem für etwa 25 Personen gedachten Raum.
Ab und zu sind es auch mehr. Denn der an sieben Tagen der Woche von elf bis 19 Uhr geöffnete Treffpunkt erfreut sich regen Zuspruchs, berichtet Norbert Henschel vom Diakonischen Werk. Zum einen habe sich in der Szene herumgesprochen, dass es jetzt diese Begegnungsstätte gibt, zum anderen geht das »Kompass«-Team nach draußen, zu den Menschen hinterm Bahnhof und informiert sie über das nahe Angebot der Diakonie. Und vielleicht hat sie mit ihrer Einladung auch Erfolg bei dem Mann, der eben noch die Bierdose die Raschplatztreppe hat runter rollen lassen.
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