Türkische Kulturrevolution
Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan macht sein Versprechen wahr und »säubert« die eigene Partei
Ahmet Edip Uğur, Ex-Bürgermeister der Großstadt Balıkesir im Nordwesten der Türkei, schluchzte, als er am Montag auf einer Pressekonferenz bekannt gab, von seinem Amt zurück- und aus der AK-Partei auszutreten. Unter Tränen las der 67-Jährige eine vorbereitete Erklärung vor; ein freiwilliger Abgang war das offenkundig nicht.
Der Säuberungselan des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, er macht auch vor den eigenen Parteifreunden nicht halt. Im Gegenteil. In den vergangenen Wochen wurden eine Reihe von AKP-Granden zum Rückzug gezwungen: Melih Gökçek, der 23 Jahre lang Bürgermeister der Hauptstadt Ankara war, nahm am vergangenen Samstag den Hut. Was 20 Regierungen, fünf Präsidenten und zahlreiche Korruptionsaffären nicht schafften, schaffte schließlich Erdoğan. Kadir Topbaş, seit 2004 Oberbürgermeister von Istanbul, war schon im September gegangen worden. Es folgten im Oktober die Bürgermeister von Düzce und Niğde. Und weitere AKP-Mayore sollen vor dem Rückzug stehen.
Es sind Säuberungen mit Ansage. Seit dem Frühjahr spricht Erdoğan von »Materialermüdung« in der AKP und mahnt eine »Erneuerung« an. Der Partei gehört er selbst erst seit diesem Jahr wieder an, nachdem des Gesetz unter seiner Ägide so umgeschrieben wurde, dass der Staatspräsident nicht mehr zu parteipolitischer Neutralität verpflichtet ist. Den pompös begangenen 16. Geburtstag der AKP im August nutzte Erdoğan, um vor Anhängern Umwälzungen in der Partei zu versprechen.
Der Umbau der AKP hat indes schon lange vor dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 und den darauffolgenden Repressionswellen begonnen. Im Mai 2016 war der damalige Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu von Erdoğan zum Rückzug gedrängt worden. Davutoğlu war zwar loyaler Vertrauter des Staatspräsidenten, aber auch ein selbstständig handelnder Politiker mit Talent und internationalem Ansehen - und er setzte sich wohl nicht engagiert genug für Erdoğans Präsidialsystem ein. Auch Abdullah Gül, ein AKPler der ersten Stunde, Erdoğans Vorgänger im Amt des Staatspräsidenten und dessen Mentor, wurde an den Rand der Partei gedrängt.
Ganz neu ist das alles also nicht, seit einigen Wochen aber beschleunigt und radikalisiert sich der Umbau der seit 15 Jahren regierenden AKP. Erdoğans Antrieb sind wohl in erster Linie die 2019 anstehenden Schicksalswahlen; sowohl Kommunal- als auch Präsidentschafts- und Parlamentswahlen werden stattfinden. Dann wird sich entscheiden, ob das Präsidialsystem sich endgültig durchsetzt oder nicht. Dafür soll die AKP die nötige Unterstützung der Massen sicherstellen. Dass eine erneuerte und verjüngte AKP dies gewährleistet, ist aber keineswegs ausgemacht. Einerseits werden alle halbwegs eigenständigen und erfahrenen Politiker von wichtigen Posten entfernt, so dass Erdoğan garantiert keinerlei Widerworte fürchten muss. Andererseits sorgen die Maßnahmen aber derzeit auch für Unruhe in der AKP. Und mit einer Parteineugründung der nationalistischen MHP-Abtrünnigen Meral Akşener steht eine Alternative bereit, die offen um AKP-Anhänger wirbt.
Ob Erdoğans Rechnung aufgeht oder sich die »Erneuerungs«-Kampagne als Boomerang erweist, ist also offen. Vorerst ist der, dessen »Material« in diesem Mehrfrontenkampf am meisten ermüdet, offenbar der Präsident selbst: Für allerhand Spott sorgte das Video einer Pressekonferenz mit Amtskollege Petro Poroschenko in der Ukraine am 10. Oktober, während derer Erdoğan mehrfach einschlief.
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