Die Größe des Kleinen

Ralf Husmanns fünfminütige »Tatort«-Ableger »Lammerts Leichen« gibt es ab heute im Internet

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 3 Min.

Es ist ja nicht so, dass irgendein Mangel an »Tatorten« bestünde. Abgesehen von Abermillionen echter gibt es jene mittlerweile 1034 fiktionalen, die uns seit 1970 den Sonntagabend verstören. Wenn die ARD nach dem Radioableger der langlebigsten Krimireihe nun auch online ein Spin-Off zeigt, droht also endgültiges Völlegefühl. Theoretisch. Praktisch allerdings sorgen »Lammerts Leichen« für alles Mögliche, aber gewiss nicht für Überdruss. Im Zentrum der sechs MDR-Kurzfilme steht der Rechtsmediziner Falko Lammert, funkensprühend bieder verkörpert von Peter Trabner. In seiner Abteilung versucht der Schnauzbartträger bei Verstorbenen die jeweilige Todesursache zu ergründen. Wobei er regelmäßig auf ganz andere Gewissheiten als jene stößt, wie, wann und warum jemand ums Leben kam.

In »Victoria« hindert ihn ein Mann auf dem Seziertisch daran, sich ins wohlverdiente Wochenende zu verabschieden. »Weißte, was der Unterschied zwischen ’ner glücklichen Kindheit und ’ner frühkindlichen Störung ist?«, fragt der abwesende Familienvater den Toten und antwortet sich naturgemäß selber: »Manchmal nur so’n Freitagnachmittag, wenn’s auf Arbeit weiter und weiter geht, bis in die Nacht«, damit der »Samstach gleich mit im Arsch ist«. Das ist zunächst nur Werktätigenprosa, Alltagslyrik ohne Ballast. Bis die Witwe (Katrin Bauerfeind) im Keller auftaucht und dem verhinderten Vorzeigepapa die Chance offeriert, unter Umgehung bürokratischer Zwänge doch noch das Hochbett seiner Töchter zu bauen.

Im hochverdichteten Dialog wird dabei zügig klar, was die winzige Web-Serie vollbringt: größere Fragen des Lebens auf kleiner Flamme zu rösten. Und verantwortlich dafür ist einer, der Wahrhaftigkeit regelmäßig in Aberwitz verwandelt: Ralf Husmann. Als Drehbuchautor hat er bereits Bernd »Stromberg« zur Chiffre bürgerlicher Abgründe gemacht und dazu Antihelden wie »Dr. Psycho« oder den »kleinen Mann« kreiert. Unter eigener Regie ist es nun ein Rechtsmediziner am Edelstahltor zum Letztgültigen, der es zum Beispiel mit dem türkischstämmigen Arslan zu tun kriegt, dessen deutsche Schwiegertochter, die auf Dr. Lammerts Tisch liegt, einen polnischen Liebhaber hatte, was den Rassismus der Mehrheitsgesellschaft entlarvt. Oder mit Vanessa, einem konturlos hübschen Schlagersternchen, mit dem der Pathologe auch über ihren Tod hinaus Themen wie Mittelmäßigkeit und Schönheitswahn debattiert.

Figuren wie diese zeigen in durchschnittlich 300 Sekunden Kammerspiel, woran es dem Leitmedium Fernsehen sonst oft mangelt: am Mut, einfach ins Blaue zu erzählen, ohne dabei beliebig zu werden. Und an der Fähigkeit, auch abseits historisch nachinszenierter, soziokulturell relevanter oder sonstwie gehaltvoller Erzählungen Tiefgang und Spaß zu erzeugen. Das Kunststück, Geschichten einfach mal ziellos um sich selbst kreisen zu lassen, beherrschen zurzeit ja allenfalls Kinoregisseure wie Noah Baumbach oder Maren Ade.

Aber im Fernsehen, dem deutschen zumal? Da gibt es außer Lena Dunhams fabelhaften »Girls« oder Aziz Ansaris »Master of None« vor allem die krampfhafte Suche nach der witzigsten Pointe, dem krassesten Twist. Was eben so für momentanes Aufsehen sorgt. Ralf Husmanns Falko Lammert hingegen will nichts Großartiges und überwindet das Kleinmütige somit spielend. Ein schönes Stück Fernsehen, wenngleich nur online. Im Regelprogramm ist für so was offenbar kein Platz.

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