Scheiß Integration

  • Heiko Werning
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Kinder spielen im Innenhof Ball. Plötzlich wildes Gekeife und Geschimpfe von einer Nachbarin, die Kinder flüchten in die Wohnung. Drei Uhr nachmittags. Da dürfen Kinder draußen Krach machen, so viel sie wollen. Ich teile ihnen das mit und schicke sie wieder raus. Wenn die böse Frau sich beschwert, sollen sie ihr sagen, dass sie ja eine Petition bei change.org starten könne, da habe sie sicherlich beste Chancen, das Ärgernis zu beseitigen, wie bei jeder anderen Petition, die bei change.org ins Leben gerufen wird.

Dem bald darauf aus dem Hinterhof schrillenden Geschrei nach zu urteilen wird mein Vorschlag von der Dame abgelehnt. Und zwar mit Verweis auf die Hausordnung, nach der das Ballspiel im Hof verboten sei. Die Schimpferin ist eine alte, schratige, türkischstämmige Frau, die kürzlich aus Hessen zu uns nach Berlin gezogen ist. Scheiß-Integration. Können diese Ausländer sich nicht gefälligst so benehmen, wie wir das von ihnen erwarten? Ununterbrochen herumlärmen in ihrer südländischen Lebensfreude, mit lauter Musik und lautem ausländischen Geschnatter, und sich einen Dreck um Regeln und Ruhe scheren, die die urdeutschen Spießer sich wünschen? Aber nein, ausgerechnet in unserem Hinterhof wohnt jetzt Frau Gauland höchstpersönlich. Quatsch: Frau Güland, natürlich. Und schreit: »Ich werde mich bei der Hausverwaltung beschweren! Sagt das eurem Vater!« Jetzt muss ich doch lachen. Sie will sich bei der Hausverwaltung beschweren! Ganz so gut ist sie offensichtlich doch nicht integriert. Beschwerden bei unserer Hausverwaltung entfalten nämlich traditionell eine noch größere Wucht als Petitionen auf change.org. Das kann Frau Güland natürlich nicht wissen, sie kennt halt die Berliner Leitkultur noch nicht. »Ja, machen Sie das!«, rufe ich ihr zu, »damit sich das auch lohnt, spielen die Kinder jetzt schön weiter Ball hier draußen. Aber dokumentieren Sie alles für die Hausverwaltung! Und schreiben Sie dazu: Die beschwerdeführende Mieterin ist vom abzumahnenden Mieter unflätig beschimpft worden!«

Frau Güland guckt irritiert, da geht im Haus gegenüber ein Fenster auf und eine Frau beginnt unflätig zu schimpfen. Jedenfalls klingt es so, verstehen kann ich es nicht, weil sie auf Türkisch schreit und zetert. Auweia, denke ich, jetzt sind die deutsch-türkischen Beziehungen endgültig am Tiefpunkt. Jetzt habe ich alter Multikulturalist die gesamte türkische Community des Wedding gegen mich aufgehetzt. Ich will gerade zu einer Rechtfertigung ansetzen, da donnert zu meiner Überraschung Frau Güland ihr Fenster zu. Die Frau von gegenüber ruft mir fröhlich zu: »Ich musste da mal ein wenig aushelfen. Sie hatten die unflätigen Beschimpfungen vergessen, über die die alte Hexe sich beschweren soll. Muss sich ja auch lohnen, nicht? So, und jetzt schicke ich mal meine Kinder raus zum Ballspielen! Und dann wollen wir doch mal sehen!« So donnerten in den folgenden Stunden zwei Bälle und gleich fünf Kinder durch den Hof. Ich setzte mich zufrieden zurück an den Schreibtisch.

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