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Der Mittelweg ist auszuschließen

Von Lenin lernen: Was man in Zeiten der Ohnmacht tun kann - aber anders

  • Michael Brie
  • Lesedauer: 9 Min.

Ende der 1980er Jahre hatten die Völker Europas, besonders im Osten und Südosten des Kontinents, einen Traum: Nach einem Jahrhundert der heißen und kalten Kriege endlich ein gemeinsames Haus vieler Völker und Nationen, zusammenlebend in Gesellschaften mit einer dynamischen Wirtschaft, einem starken Sozialstaat, einer Demokratie, in der die Bürgerinnen und Bürgern das Sagen haben, in Frieden und mit durchlässigen Grenzen. Es ist drei Jahrzehnte her, und alles scheint ins Gegenteil verkehrt: Kriege in den südlichen und südöstlichen Nachbarstaaten Nordafrikas, des Nahen und Mittleren Osten; ungelöst Konflikte in der Ukraine, dem Kaukasus. Spanien steht vor einer Zerreißprobe. Großbritannien verlässt die EU. Wirtschaftlich ist der Kontinent gespalten, die Gesellschaften sind sozial fragmentiert. Es werden die Mauern hochgezogen. Von rechts wird die liberale Demokratie in Frage gestellt. Terror ist allgegenwärtig.

Die Linke ist dafür mitverantwortlich. Sozialdemokratische, grüne, auch kommunistische Parteien haben die neoliberale Politik aus der Regierung mit durchgesetzt oder ihr in der Opposition nicht wirksam eine Alternative entgegengesetzt. Viele Bürgerinnen und Bürgern fühlen sich enttäuscht von dieser Linken oder schlicht verraten. Sie hat als Hüter des Sozialen, der Demokratie und dies Friedens weitgehend versagt. Wenn überhaupt, dann führt sie Abwehrkämpfe. Was also tun, wenn fast gar nichts geht?

Heute, genau einhundert Jahre nach dem Ereignis, das als Große Sozialistische Oktoberrevolution in die Geschichte eingehen sollte, ist es nützlich, zurückzublicken auf die Zeit vom August 1914 bis November 1917. Man kann sich Anregungen holen, gerade bei Lenin, dem wirkungsmächtigsten Politiker der Linken im 20. Jahrhundert, was man in Zeiten der Ohnmacht tun kann - aber anders. Auf acht solche Anregungen sei verwiesen. Acht Fragen an die europäische Linke seien gestellt.

Erstens: Lenin begann mit einem sehr konkreten Nein zum Krieg. Er ist nicht nur einer der entschiedensten Gegner dieses Krieges, sondern qualifiziert ihn ohne Abstriche als imperialistischen Krieg - egal, welche Nuancen es gäbe. Kurzzeitig unterstützt er die Losung vom vereinten Europa. Dann aber sieht er dies als Ablenkung von den eigentlichen Aufgaben und verkündet dem Krieg der Sklavenhalter den Bürgerkrieg der Sklaven, wie er es nennt. Oder wie Karl Liebknecht es formuliert: Nicht Burgfriede, sondern Burgkrieg! Welches konkrete Nein aber hat die europäische Linke?

Zweitens: Die langen ersten Monate des Weltkrieges verbrachte Lenin in Bern in Bibliotheken und las Hegel! Er begann eine Phase intensiver philosophischer Reflexion. 30 Seiten umfassen seine politischen Stellungnahmen dieser Zeit. Mehr war nicht möglich in dieser Situation fast völliger Isolation. 50 Seiten lang ist sein Artikel über Marx für die russische Enzyklopädie Granat. Und 150 Seiten sind allein seine Exzerpte zu Hegels Wissenschaft der Logik, dessen abstraktestem Werk. Lenin bezieht seine Erfahrungen auf Hegels Dialektik von Entwicklung und Praxis; er schult sein Denken in Widersprüchen, unter den Bedingungen von Brüchen und Sprüngen, jähen Ereignissen. Die Wahrheit sei immer konkret. So bereitet er sich vor auf das Unvorhersehbare. Nichts bei Hegel sei materialistischer als dessen idealistische Dialektik, schreibt er. Mit welcher Philosophie aber hat sich die europäische Linke auf die völlig neue Situation vorbereitet? Der Gedanke selbst, dass dies unabdingbar sei, scheint nicht von ihrer Welt.

Drittens: Nach dem ersten Schock über die Politik der deutschen Sozialdemokratie und anderer Parteien der Zweiten Internationale entwickelte Lenin eine eigene alternative Erzählung. Sie soll erklären, wie es zu diesem Verrat an den Beschlüssen der Internationale von 1912 kommen konnte. Sie sollte begründen, warum ein neues Wir, eine neue, eine kommunistische Internationale, gebraucht werde, warum diese die sozialistische Revolution in Europa auf die Tagesordnung setzen müsse und wie dies geschehen könne. Der deutschen wie europäischen Linke aber ist die Vorstellung von einer gemeinsamen Erzählung fremd, wird in die Nähe von Märchen gerückt. Doch wie soll das Verschiedene, Getrennte verbunden werden, wenn nicht erzählend (und auf dieser Basis organisierend und praktisch)? Das Wir muss geschaffen werden. Eine abstrakte Gemeinsamkeit von Interessen reicht nicht, weil vieles dem Gemeinsamen entgegensteht. Der Stolz und das Begehren, einer neuen »Subjektivität«, einem neuen Wir anzugehören, ist aktiv zu schaffen. Wer keine Erzählung hat, ist vor jedem Kampf verloren.

Viertens: In den Jahren im Schweizer Exil während des Ersten Weltkriegs entsteht Lenins einführende Schrift Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Über eintausend Quellen werden herangezogen. 900 Seiten umfassen seine Exzerpte. Mitarbeiter unterstützen Lenin. Was Lenin interessiert, ist nicht die umfassende analytische Erklärung des Wesens von Imperialismus, sondern dessen Bedeutung für linkes strategisches Eingreifen. Kautskys Ultraimperialismus sei nur eine abstrakte Möglichkeit. Konkret liefe es völlig anders. Lenin sucht nach den Schwachpunkten dieses ungeheuer starken internationalen Systems. Die Ungleichheit der Entwicklung, die innerimperialistischen Widersprüche, die Konflikte zwischen den führenden imperialistischen Nationen und den Kolonien wie Halbkolonien rücken ins Zentrum. Die nationale wie die Agrarfrage interessieren ihn, außerdem jene Elemente, die Imperialismus und Krieg geschaffen haben, und ihrerseits auf eine neue Wirtschaftsordnung hinweisen. Vor allem begreift er, dass es keine »rein sozialistische« Revolution geben könne. Um eine große Veränderung zu bewirken, müssen sehr heterogene Prozesse wirkungsvoll verbunden werden: nationale und soziale Kämpfe, Kämpfe für radikale Demokratie mit der Umwälzung der Eigentumsverhältnisse. Welche konkrete Frage dabei die zentrale ist, könne, so Lenin, nicht abstrakt beantwortet werden, sondern nur konkret und praktisch. Dies alles ist eingreifende Gesellschaftsanalyse. Wie gut ist die heutige europäische Linke mit solchen praktisch relevanten Analysen ausgestattet?

Fünftens: Nach der Februarrevolution 1917 wirft Lenin in nur wenigen Wochen die heiligste Kuh der russischen Sozialdemokratie, die Lehre von den zwei Phasen der Revolution, der bürgerlichen Revolution als Vorstufe zu einer sozialistischen Revolution, über Bord. Trotzki hatte dies schon 1905/6 getan. Mit dem Imperialismus und dem Krieg, so Lenin, seien die objektiven und nun auch schon die subjektiven Bedingungen für eine sozialistische Revolution gegeben, zuerst in Russland, dann in Deutschland und Europa. Er setzt in seinen Aprilthesen diese Revolution auf die Tagesordnung. Welches Konzept von Revolution, Reform, Transformation aber hat die europäische Linke? Man kann doch nicht ständig sagen, dass der Kapitalismus nicht das letzte Wort der Geschichte der Menschheit ist - will sie nicht untergehen -, und selbst keine Vorstellung von der Art und Weise derart fundamentaler Umbrüche haben!

Sechstens: In der gleichen Zeit entwickelt Lenin einen Begriff von Epoche als Handlungssituation. »Was tun« und »Wer tut es?« waren immer die zentralen Fragen einer gesellschaftsverändernden Linken. Lenin rückt dies erneut in den Vordergrund. Nicht allgemeine evolutionäre Tendenzen, sondern ihre Überschneidungen mit Handlungsmöglichkeiten stehen im Vordergrund. Seine Analysen zielen auf Szenarien. In der Agrarfrage könnte der preußische oder der US-amerikanische Weg gegangen werden. Auch die nationalen Fragen würden Raum für Alternativen öffnen. So kann er beweglich Möglichkeiten »durchspielen«, ist offen für Weichenstellungen, die sich unerwartet ergeben. In der europäischen Linken aber wird zumeist nur im Entweder-Oder, Richtig-oder-Falsch gedacht. Einzelne Möglichkeiten werden gegeneinander gestellt und verabsolutiert. Dies spaltet und macht ohnmächtig.

Siebentens: In der Bibel findet sich in den Sprüchen Salomons der Satz: Ohne Visionen werden die Menschen wüst und wild. Es bedarf eines befreienden, eines emanzipatorischen, eines utopischen Horizonts auf eine »andere Welt«. In den Sommermonaten des Jahres 1917 schreibt Lenin an Staat und Revolution. Erstaunlich ist daran vor allem, dass er sich den Widersprüchen einer neuen sozialistischen Ordnung stellt. Der neue sozialistische Staat müsse Elemente des bürgerlichen Staates haben, damit die Arbeiter als »Gesellschaftsglieder« gegen sich selbst in ihrer Eigenschaft als Privatindividuen das Leistungsprinzip durchzusetzen. Repression also nicht nur gegen die herrschenden Klassen der alten Gesellschaft! Was bei Lenin fehlt, ist das Bewusstsein, dass Politik nicht nur Herrschaft ist, sondern auch ein Raum des Dialogs, der Selbstverständigung, der die Freiheit der Andersdenkenden garantieren muss. Es fällt der verhängnisvolle Satz, dass es dort, »wo es Gewalt gibt, keine Freiheit und keine Demokratie gibt«. Aber welche Vision hat die europäische Linke? Wie bereitet sie sich auf die Widersprüche vor, die ihre eigene Politik hervorruft. Gerade die Notwendigkeit, mit den Folgen einer Regierungsbeteiligung umzugehen, scheint die Linke immer ganz unvorbereitet zu treffen.

Achtens: Alle genannten Fragen münden in das, was man Einstiegsprojekte nennen könnte. Lenin denkt sie sich nicht aus, wie man oft liest, sondern nimmt sie aus den Forderungen der Soldaten, der Arbeiter, der Bauern, der Vertreter unterdrückter Völker Russlands. »Alle Macht den Sowjets« und »Sturz der Provisorischen Regierung«, »Frieden ohne Vorbedingungen sofort«, »Arbeiterselbstverwaltung«, »Recht auf Selbstbestimmung« sind solche Losungen. Wie der internationalistische Menschewik und großartige Zeitzeuge Nikolai Suchanow schrieb, schlug Lenins Rede bei seiner Ankunft im April 1917 in Petrograd ein wie ein Blitz: »Uns, die wir gänzlich in der undankbaren Routinearbeit der Revolution versunken waren, die wir uns den zwar notwendigen, aber von der ›Geschichte‹ unbemerkten Notwendigkeiten des Tages widmeten, uns erschien vor unseren Augen plötzlich ein strahlendes, blendendes fremdartiges Licht, das uns für alles blind machte, was bis dahin unser Leben ausgemacht hatte.« Die Alternative zu Krieg und Unterdrückung wurde ganz konkret und erschien machbar. Welches Programm von Einstiegsprojekten aber hat die europäische Linke? Was davon ist im Massenbewusstsein?

Fragt man, was die dargestellten acht Elemente der Leninschen Strategiebildung gemeinsam haben, dann ist es die Orientierung auf den Antagonismus, den unversöhnlichen Gegensatz, das Entweder-Oder, den Ausschluss jedes Mittelwegs, den Ausnahmezustand. Das Nein war absolut, die philosophische Konzeption setzt auf die Zuspitzung und Verschärfung der Widersprüche und ausschließlich auf den Sprung. Die Erzählung fokussierte auf den absoluten Bruch mit der Sozialdemokratie. Die Analyse schloss jede Reformfähigkeit von Kapitalismus und Imperialismus aus; die Szenarien kannten fast nur einerseits die Barbarei des Krieges und andererseits sozialistischen Bürgerkrieg gegen die kapitalistischen Sklavenhalter. Der emanzipatorische Horizont verhieß jenen, die sich widersetzen, den Entzug aller und jeder demokratischen und Freiheitsrechte; und das zentrale Projekt war die von der bolschewistischen Partei ausgeübte »proletarische Macht«, die ihre Gegner erbarmungslos unterdrückt. Jedes der Elemente von Lenins Strategie ist von den Extremen her konzipiert. Die Strategie der Extreme und des Bürgerkriegs hatte sich unter den Bedingungen Russlands und des Weltkrieges auf dem Weg im Jahre 1917 zur Macht als Stärke erwiesen. Nach dem 25. Oktober 1917 kam alles darauf an, wie diese Macht verwandt wurde. Dies aber ist eine andere Geschichte.

Die heutige europäische Linke kann und sollte Lenin nicht kopieren. Sie muss es tatsächlich anders machen. Aber die genannten acht Anregungen kann sie sich bei Lenin holen. Ohne konkretes Nein, ohne dialektische Praxisphilosophie, ohne eigene Erzählung, ohne strategische Gesellschaftsanalyse, ohne Epochenverständnis und Szenarien, ohne emanzipatorische Vision mit ihren Widersprüchen und ohne im Konsens erarbeitete Einstiegsprojekte bleibt es bei der heutigen Ohnmacht der Linken in Europa. Sie wird dem Aufstieg der Rechten und dem Durchwursteln des herrschenden Blocks nichts entgegensetzen können. Eine neue Krise wird sie unvorbereitet vorfinden. Sie wird die Chancen einer offenen Situation nicht ergreifen können. Deshalb: Lasst uns gemeinsam bei Lenin in die Schule gehen, um emanzipatorische Gesellschaftsveränderung anders als er zu machen. Das zumindest sollte kein Traum bleiben.

Von Michael Brie erschien im April das Buch »Lenin neu entdecken. Dialektik der Revolution - Metaphysik der Herrschaft«, VSA-Verlag, 160 S., pb., 12 €. Hier gehts zum Download.

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