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Scheidung in der Luft
Jamaika-Unterhändler setzen Tagespolitik außer Kraft – und den Schutz der Familie
Zuletzt war gar von einer weiteren Verlängerung der Sondierungen die Rede. Zu groß der Packen an unbewältigten Problemen, zu gegensätzlich die Positionen der Sondierungspartner CDU/CSU, FDP und Grüne. Am Sonntagabend jedenfalls, bei Redaktionsschluss des »nd«, war ein Ende noch nicht abzusehen. Angela Merkel mag die Augen verdreht haben, als ihr die Empörung der SPD-Faktionschefin Andrea Nahles zu Ohren kam. Doch Merkel ist nicht nur CDU-Chefin, sondern auch amtierende Bundeskanzlerin. Und als solche hat sie Aufgaben wahrzunehmen, die außerhalb des Kosmos der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft in Berlin liegen, wo sich die Sondierer seit Wochen in ihren Verhandlungen ineinander verhaken. Nahles sieht eine solche Aufgabe sträflich damit vernachlässigt, dass Deutschland zum soeben in Schweden beendeten Sozialgipfel der Europäischen Union nicht mit einem verantwortlichen Mitglied der Bundesregierung vertreten war. Die amtierende Arbeits- und Familienministerin Katarina Barley (SPD) hätte als Merkels Vertretung nach Göteborg fahren müssen, Merkel habe das aber verhindert, so Nahles. »Die Bundeskanzlerin zeigt schon vor Abschluss der Sondierungsgespräche das neue deutsche Jamaika-Gesicht: Die europäischen Staatschefs erklären in Göteborg feierlich, sozialer zu werden durch faire Löhne und Renten, gute Versorgung bei Gesundheit und Pflege - und Deutschland ist nicht dabei«, sagte Nahles der Deutschen Presse-Agentur. »Merkel hat verhindert, dass unser Land in Göteborg vertreten ist. Die zuständige Ministerin Katarina Barley wäre bereit gewesen, an Merkels Stelle zur Unterzeichnung der Erklärung zu fahren. Doch Frau Merkel wollte das ausdrücklich nicht.«
Auch vom Klimagipfel, der in Bonn zu Ende ging, ohne dass Deutschland die Vorreiterrolle übernommen hätte, die ihm viele Teilnehmer aus dem Ausland zuschreiben, kamen unzufriedene Bemerkungen. Das politische Patt in Berlin habe Deutschland faktisch gelähmt, so der Vorwurf. Weder trat Deutschland der Anti-Kohle-Allianz bei, die in Bonn gebildet wurde, noch konnte es sich zu irgendwelchen Zusagen für einen baldigen Kohleausstieg durchringen. Bundesumweltministerin Barbara Hendricks als Vertreterin der noch amtierenden Großen Koalitionsregierung machte deshalb in Bonn einen engagierten, aber letztlich hilflosen Eindruck.
Vor allem bei den Grünen in den Bundesländern verstärkt dies das Unbehagen, mit dem man auf die Sondierungsgespräche in Berlin sieht. Während ein in Bochum geplantes Regionalforum der Grünen wegen der unklaren Lage kurzerhand abgesagt wurde, versuchten die Thüringer Grünen auf einem Landesparteitag die Zumutungen, die aus Berlin herübergrollten, irgendwie zu ignorieren. Den Angriffen der Opposition auf die Partei und insbesondere auf Justizminister Dieter Lauinger im Bundesland versuchte man mit einem Zusammenrücken um klare grüne Positionen zu begegnen. Ein Unterfangen, das mit Blick auf die sporadischen Meldungen aus der Sondierungsrunde in Berlin sowie auf den vom Donnerstag schriftlich vorliegenden Verhandlungsstand alles Vertrauen in die eigene Standhaftigkeit aufbrauchen dürfte. »Es kann keine Jamaika-Koalition ohne klaren Ausstieg aus der Kohle geben« - der Appell der Thüringer Grünen-Umweltministerin Anja Siegesmund klang da schon fast wie das berühmte Pfeifen im Wald.
Was über die Verhandlungen nach außen dringt, dürfte manchem Grünen Bauchgrimmen verschaffen - besonders aus dem Bereich der Flüchtlings- und Migrationspolitik. Die Vorstellung etwa, dass die Partei der von der CSU geforderten Obergrenze von 200 000 Menschen in irgendeiner Weise zustimmen könnten - und sei es als »atmender Rahmen«, auf den die Grünen dem Vernehmen nach am Samstag bereit waren sich einzulassen. Die Parteivorsitzende Simone Peter dementierte auf Twitter strikt: »Das ist schlichtweg falsch. Weder gibt es mit uns eine Obergrenze, noch die Zustimmung zur weiteren Aussetzung des Familiennachzugs.« Doch die Details im Bericht des ARD-Hauptstadtstudios über das angebliche Kompromissangebot klingen nicht wie ausgedacht: Nehme die Zahl der Flüchtlinge deutlich zu, solle der Bundestag bei den erforderlichen Maßnahmen einbezogen werden. Die Zahl von 200 000 sei seit der Wiedervereinigung ohnehin »nur in fünf Jahren« überschritten worden, hätten die Grünen angemerkt. Als Gegenleistung erwarte die Partei vor allem von der CSU, dass der Familiennachzug für Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutzstatus nicht grundsätzlich ausgeschlossen werde. Wie die weitere »Bedingung« der Grünen hier hineinpasst, blieb offen: Das Grundrecht auf Asyl kenne »keine Obergrenze« und dürfe nicht ausgehöhlt werden. Neben der CSU war es offenbar vor allem die FDP, die sich beim Familiennachzug kompromisslos zeigte. Wie Reuters unter Berufung auf Teilnehmer der Verhandlungen berichtete, wolle man bereits integrierten Flüchtlingen, die sich und ihre Familie selbst ernähren könnten, ein Aufenthaltsrecht über das angestrebte Einwanderungsgesetz verschaffen. Auch der Familiennachzug würde auf diesem Weg geregelt. Eine Beendigung des Nachzugstopps von Flüchtlingsangehörigen ab März 2018 lehne die FDP jedoch ab.
Eine Mahnung zur Humanität erreichte die Unterhändler am Wochenende von unerwarteter Seite. Norbert Blüm, CDU-Arbeits- und Sozialminister unter Kanzler Helmut Kohl, schrieb in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« in einem Gastbeitrag: »Es widerspricht den Grundüberzeugungen der christlichen Soziallehre, den Familiennachzug für wie viele Flüchtlinge auch immer zu verbieten.« Ehe und Familie seien auf Dauer angelegt, Ehemann und Ehefrau gehörten zusammen und Kinder zu ihren Eltern. Das gelte immer und überall. Das Verbot des Familiennachzugs komme einer staatlich erzwungenen Scheidung gleich.
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