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Der Held ist demontiert. Es lebe der Held!

Stefan Bollinger hat eine ausgewogene Biografie über den Theoretiker, Strategen und Realpolitiker Wladimir I. Lenin verfasst

  • Jörg Roesler
  • Lesedauer: 5 Min.

Zu Wladimir I. Lenin haben sich seine Nachfolger alle bekannt, als erster Josef W. Stalin, der ihm unmittelbar folgte und der über sich selbst verbreiten ließ: »Stalin ist der Lenin unserer Tage.« Aber auch Nikita Chruschtschow, der sich berufen fühlte, die »Leninschen Normen« im Parteileben wieder herzustellen. Zurückhaltender äußerte sich Leonid Breschnew, aber betont positiv wieder dessen Nachfolger Michail Gorbatschow.

• Stefan Bollinger: Lenin. Theoretiker, Stratege, marxistischer Realpolitiker.
PapyRossa, 147 S., br., 9,90 €.

Selbst im Westen war man lange Zeit Lenin gegenüber mit Kritik zurückhaltend. Das änderte sich mit den Umbrüchen in der Sowjetunion und Osteuropa zu Beginn der 1990er Jahre. Westliche Publizisten sehen Lenin seitdem vor allem als Wegbereiter der Stalinschen Terrorherrschaft. Kritische Stimmen mehren sich auch in Ostdeutschland. Linke verurteilen Lenins Maßnahmen, die zwischen 1917 und 1923 zum Demokratieabbau in Partei und Staat geführt haben. Jüngst hat sich auch Russlands oberster Politiker, Putin, der Kritik angeschlossen: Lenin habe mit einer Reihe von Entscheidungen die Einheit des Landes gefährdet, ließ er anlässlich des 100. Jahrestages der Oktoberrevolution verlauten. Der Held ist demontiert.

Wer sich hinsichtlich seiner bisherigen Meinung über Lenins Rolle in der Weltgeschichte verunsichert fühlt bzw. wer über diesen umstrittenen Politiker eine Meinung erst bilden will, der sollte zum Büchlein von Stefan Bollinger greifen. Der Politikwissenschaftler und Historiker hat sich seit mehr als einem Jahrzehnt mit der politischen Entwicklung Russlands im kritischen Jahrzehnt 1914 bis 1924 beschäftigt und mehrfach zur Thematik publiziert. Was seine jüngste, hier vorzustellende Publikation in meinen Augen so wichtig macht, ist zweierlei:

Erstens, Bollinger geht auf sämtliche früheren und heutigen Einschätzungen Lenins ein und vermeidet ein rasches Urteil. Zweitens schildert er präzise die Umstände, unter denen die wichtigsten von Lenins umstrittenen Entscheidungen zustande kamen. Damit gibt er dem Leser die Chance, sich selbst ein Urteil zu bilden. In diesem Sinne besonders aufschlussreich und anregend ist Bollingers Analyse des heutzutage zum Vorzeichen späterer Stalinscher Terrorherrschaft hochstilisierten Kronstädter Aufstandes, die Darstellung des Zustandekommens des Kriegskommunismus 1918 sowie die Gründe für dessen Abbruch und Ersetzung durch die Neue Ökonomische Politik (NÖP) 1921. Tiefe Einblicke gewährt Bollinger auch in den Meinungsstreit und das Fraktionsverbot innerhalb der Bolschewiki. Er nimmt zu Lenins Demokratieverständnis Stellung, das schon seinerzeit bei Rosa Luxemburg auf entschiedene Kritik stieß. Der Autor lässt dabei immer wieder Lenin im O-Ton sprechen, so dass bei der Lektüre der Eindruck entsteht, dieser greife unmittelbar in die Auseinandersetzungen ein.

Bollinger hat seine Publikation in drei Kapitel unterteilt. Das erste ist dem marxistischen Theoretiker gewidmet. Im Mittelpunkt steht hier die Analyse von »Staat und Revolution«, ein Werk, das Lenin 1917 vor der Machtübernahme durch die Bolschewiki verfasst hatte.

Im Zentrum des zweiten Kapitels steht der Stratege. Bollinger untersucht unter anderem die Entwicklung von Lenins Auffassungen zur bürgerlich-demokratischen und zur sozialistischen Revolution, zur Idee der Avantgardepartei, zum Verhältnis von Imperialismus und Sozialismus als aufeinander folgende Gesellschaftsformationen sowie seine Auffassungen zum Recht der Nationen auf Selbstbestimmung bis hin zur Erklärung der staatlichen Unabhängigkeit der Völker während der sozialistischen Revolution.

Das interessanteste Kapitel in Bollingers Buch ist wohl das dritte, in dem er Lenin als Realpolitiker schildert und beleuchtet, wie sich der Philosoph und Stratege zu den vor der jungen Sowjetmacht konkret stehenden Anforderungen verhielt, wie es ihm gelang, die Arbeiter und Bauern bei der Stange zu halten und somit die Revolution zu sichern. Dies glückte ihm unter anderem, indem er für sie die Mühen des Alltags linderte. Im dritten Kapitel zollt Bollinger, der sich ansonsten bei der Beurteilung von Lenins Strategien und Politik eher zurückhält, dem Führer der SDAPR (B) bzw. der Kommunistischen Partei Russlands höchste Anerkennung für seine Fähigkeit zur Selbstkritik und Korrektur der aus den Werken von Marx und Engels abgeleiteten oder selbst entwickelten Strategien, wenn deren unmittelbare Verwirklichung zu inneren politischen Krisen führte.

Als größte dieser Krisen benennt Bollinger die von 1920/21, als die unter dem Zwang zur Landesverteidigung rasch und zwangsweise eingeführten, eigentlich für ein entwickelteres Stadium der neuen Gesellschaftsordnung gedachten Enteignungs- und zentralstaatlichen Lenkungsmaßnahmen mit der NÖP wieder zurückgenommen werden mussten - zugunsten der Duldung marktwirtschaftlicher Strukturen und privatwirtschaftlicher Antriebe, allerdings unter Beibehaltung planwirtschaftlicher Grundstrukturen. Nur so konnte der junge Sowjetstaat vor dem Auseinanderbrechen bewahrt werden.

Als sehr nützlich für den Leser erweist sich der relativ umfassende Anhang. Er enthält eine zur Orientierung im - nicht chronologisch strukturierten - Band notwendige Zeittafel sowie ein Verzeichnis wichtiger Namen von Persönlichkeiten und Begriffen, die in der Darstellung eine Rolle spielen.

Entsprechend Bollingers Absicht, den Leser dazu anzuregen, sich selbst eine Meinung zu bilden, befindet sich im Anhang auch ein Verzeichnis derjenigen von Lenins Schriften, »die für die marxistische Theorienentwicklung und praktische Politik der Bolschewiki wesentlich waren und deren heutiger Bezug eine Lektüre nahelegen.«

Bollinger schließt sein Buch mit einem ausführlichen den Leser aufmunternden Leninzitat, das vom Begründer des Sowjetstaates anlässlich des vierten Jahrestages der Oktoberevolution geäußert wurde. Doch man lese selbst.

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