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Die großen Themen

Iwan Bunin: Russische Erzählkunst, die im 19. Jahrhundert wurzelt

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 3 Min.

Als Iwan Alexejewitsch Bunin 1953 im französischen Exil starb, war es für viele der Tod des letzten klassischen russischen Erzählers des 19. Jahrhunderts. Und obwohl Bunin 1933 den Literaturnobelpreis erhielt, wurde er im deutschsprachigen Raum wie viele andere russische Exilautoren nur wenig gelesen.

• Iwan Bunin: Ein Herr aus San Francisco. Erzählungen 1914/1915.
A. d. Russ. v. Dorothea Trottenberg. Hg. v. Thomas Grob. Dörlemann Verlag, 300 S., Leinen, 25 €.

Das änderte sich erst, als vor ein paar Jahren der Basler Slawist Thomas Grob im Dörlemann Verlag eine Werkausgabe Bunins herauszugeben begann. Der jetzt erschienene Band, »Ein Herr aus San Francisco«, enthält in der Neuübersetzung von Dorothea Trottenberg Erzählungen aus den Jahren 1914/1915. Und wieder ist man erstaunt, dass dieser wunderbare Autor so lange kaum ein Publikum fand.

Will man einen Eindruck vermitteln, wie Bunin seine Leser in den Bann zieht, reicht das Zitat des ersten Satzes der Erzählung »Ein Frühlingsabend« aus: »In der Thomaswoche, an einem klaren, zartrosa Abend, in jener zauberhaften Zeit, wenn die Erde gerade eben unter dem Schnee durchscheint, wenn in den Talmulden der Steppe unter den kahlen, jungen Eichenbäumen noch grauer, harschiger Schnee liegt, zog in einem Dorf in der Gegend von Jelez ein alter Bettler von Hof zu Hof - ohne Mütze, versteht sich, und einen langen Leinenbeutel über der Schulter.«

Hier wird nicht nur Bunins große Kunst der atmosphärischen Schilderung deutlich, sondern gleichzeitig sein Interesse an den sozialen Verhältnissen. Bunin erzählt vom Leben in all seiner Schönheit, während er gleichzeitig vor der Armut, vor Ungerechtigkeit und Gewalt nicht die Augen verschließt. Mehr noch, der Bettler, der hier von Dorf zu Dorf zieht, wird zum Helden seiner Geschichte, die so schön beginnt und so brutal endet. Dabei ist der unmittelbare Täter - wie meist im wirklichen Leben auch - selbst ein armer Schlucker. Eine Einsicht, die dazu führt, dass auch der Täter seine Würde nicht verliert.

In der titelgebenden Geschichte, »Ein Herr aus San Fancisco«, macht ein reicher Amerikaner zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter eine zweijährige Reise. »Er war sich vollkommen gewiss«, heißt es, »jedes Recht auf Erholung zu haben, auf Amüsement, auf eine lange, komfortable Reise«.

Dabei beachtet er kaum die »mit beißendem, schmutzigem Schweiß überströmten Männer«, die im Bauch des Luxusdampfers, auf dem sie den Atlantik überqueren, Steinkohle in die Kessel schaufeln. Plötzlich aber stirbt der Mann, und obwohl er und seine Familie sich so wenig für das Leid anderer interessierten, bedauert der Leser ihr Schicksal.

Letztlich jedoch sind es die großen Themen Liebe, Glück und Tod, die Bunin in seinen Erzählungen am meisten beschäftigen. In »Die Grammatik der Liebe« besucht der Erzähler ein Nachbargut, wo gerade der Besitzer gestorben ist. Er hatte sich, was niemand verstehen konnte, völlig der Liebe zu einem jung verstorbenen Stubenmädchen hingegeben. Aber die Räume und Gegenstände im Gutshaus verraten kaum etwas vom Geheimnis dieser tiefen Bindung.

»Brüder« enthält eine Kritik des Kolonialismus. Ein ehemaliger Kolonialherr stellt sein Leben angesichts von Krankheit und Tod infrage und trifft damit auf Unverständnis.

Als Schriftsteller gibt Iwan Bunin keine Antworten auf die großen Fragen des Lebens, aber er erzählt von ihnen auch in diesem Band wieder auf unvergessliche Weise.

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