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  • SPD vor der Großen Koalition

SPD erklärt Bürgerversicherung zur Koalitionsbedingung

Die Bundesärztekammer prophezeit den Verfall des Gesundheitssystems. Ärzte aus strukturschwachen Regionen erhoffen sich Verbesserungen

  • Lesedauer: 3 Min.

Seit SPD-Chef Martin Schulz eine Koalition mit der Union nicht mehr ausschließt, erklären Sozialdemokraten in erster Linie die Bürgerversicherung zur Bedingung für den Eintritt in eine Regierung. Die Sozialdemokraten versprechen sich von der ambitionierten Reform das Ende der sogenannten Zwei-Klassen-Medizin, die Kassenpatienten gegenüber Privatversicherten benachteiligt. Nach dem SPD-Vorschlag müssten diejenigen, die sich zum ersten Mal versichern, eine von den Kassen angebotene Bürgerversicherungen wählen. Wer bei einer privaten Kasse versichert ist, würde jedoch nicht zum Wechsel gezwungen. Somit würde die private Vollversicherung nicht abgeschafft. Sie würde zum Auslaufmodell erklärt. Beiträge für die Bürgerversicherung sollen nach Vorstellung der SPD anders als bislang paritätisch von Arbeitgebern und Beschäftigten gezahlt werden.

SPD-Politiker weisen gern darauf hin, dass Bürger das Konzept der Sozialdemokraten als gerecht empfinden. Nach Umfragen sprechen sich rund 60 Prozent der Deutschen für die Bürgerversicherung aus. Doch Ärzteverbände warnen seit Tagen in schrillem Ton, dass die Bürgerversicherung den »Turbolader in die Zweiklassenmedizin« startet. Die Ungleichbehandlung im Gesundheitssystem würde ihrer Ansicht nach nicht abgeschafft, sondern vertieft.

Hintergrund ist, dass zum Beispiel die Bundesärztekammer und ihr Präsident Frank-Ulrich Montgomery davon ausgehen, dass das Gesundheitssystem durch die Bürgerversicherung Geld verlieren wird. Nach Verbandsschätzungen müssten Arztpraxen im Jahr mit Mindereinnahmen von bis zu 30 000 Euro rechnen. »Nur durch die kostendeckende Vergütung durch die Privatversicherungen geht das Finanzierungsmodell für niedergelassene Ärzte auf«, warnt der Kardiologenverband. Fiele die Querfinanzierung von Kassenpatienten durch Privatversicherte weg, müssten einige Arztpraxen schließen. Der Standard der Behandlung müsste insgesamt gesenkt werden. Nur Wohlhabende würden sich noch eine teure private Zusatzversicherung leisten können, um weiterhin die bestmögliche Behandlungen zu erhalten.

Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung begründet diese Befürchtung. Demnach könnten Bund und Länder durch die Bürgerversicherung innerhalb von 15 Jahren bis zu 60 Milliarden Euro an Haushaltsmitteln sparen, die bislang für die staatliche Beihilfe vorgesehen sind.

Die SPD versichert den Ärzten, keine Sparpläne zu hegen. »Wir werden dem Gesundheitssystem kein Geld entziehen«, bekundet der SPD-Abgeordnete Edgar Franke, der in der vergangenen Legislaturperiode Vorsitzender des Gesundheitsausschusses war. Der Befürchtung von Ärzten begegnet er mit der Ankündigung, die SPD werde die einheitlichen Bewertungsmaßstäbe für ärztliche Leistungen anheben, was die Einnahmen von niedergelassenen Ärzten erhöhen würde. Die Anhebung soll durch Steuermittel und die Versicherungsbeiträge von bislang Privatversicherten finanziert werden. »Von Privatleistungen profitieren derzeit vor allem die Ärzte in wohlhabenden Stadtteilen«, sagt Franke. »Mit der Bürgerversicherung werden die Mittel im Gesundheitssystem fairer verteilt.«

Der Allgemeinmediziner Michael Janßen, Ko-Vorsitzender des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte, befürwortet aus diesem Grund die Bürgerversicherung. Janßen betreibt eine Praxis in dem armen Berliner Stadtteil Neukölln. »Hier lebt kein Arzt von Privatpatienten«, sagt er. Seiner Ansicht nach vertritt der Präsident der Bundesärztekammer Montgomery lediglich einen Teil der Ärzteschaft, und dieser sei »konservativ, einkommensorientiert und selbst privat versichert«. Ebenso wie die SPD rechnet Janßen mit Mehreinkünften durch die Bürgerversicherung. Er erhofft sich davon höhere Honorare für Kassenleistungen.

Die Union lehnt die Bürgerversicherung bislang ab. Doch der für Gesundheitspolitik zuständige Fraktionsvize Georg Nüßlein (CSU) signalisiert Kompromissbereitschaft. Zwar seien für eine Bürgerversicherung massive Eingriffe in private Versicherungsverhältnisse und die Tätigkeit der privaten Krankenversicherer nötig. »Allerdings sind wir gesprächsbereit, wenn es um echte Verbesserungen für alle und Gleichbehandlung statt der sogenannten Zwei-Klassen-Medizin geht,« sagt er. Für die Durchsetzung der Bürgerversicherung scheint der Zeitpunkt günstiger denn je. Die Kanzlerin ist auf die SPD angewiesen und der Glyphosateklat schwächt ihre Verhandlungsposition. Beharren die Sozialdemokraten auf der Bürgerversicherung, wird eine Ablehnung für die Union schwer. flh

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