Verantwortlungslose Zahlenspiele

Beim Wort «Muslime» geht das «Kopfkino an, sagt eine Islamwissenschaftlerin

  • Robert D. Meyer
  • Lesedauer: 3 Min.
Frage: Wie viele Muslime leben in Deutschland? Auf einer Pegida-Demonstration in Dresden würde die Antwort lauten: »Zu viele.« Tatsächlich tun sich große Teile der Bevölkerung schwer, den Anteil an Menschen muslimischen Glaubens richtig einzuschätzen. In einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Ipsos aus dem Jahr 2016 meinte die Mehrheit der Befragten, jeder Fünfte hierzulande sei ein Anhänger des Islam. An der Realität war dies mehr als nur knapp vorbei: In Wahrheit sind es lediglich fünf Prozent. Solche Fehleinschätzungen kommen auch zustande, wenn wiederum andere Studien vermeintlich belegen, wie sich der Anteil der Muslime in den nächsten Jahrzehnten entwickeln könnte, und dies wiederum Anlass für rechte Kräfte ist, die Bedeutung solcher Zahlen hochzuspielen.

Genau dies passiert mit einer Prognose des »Pew Research Center« in Washington. Die Forscher haben in drei verschiedenen Szenarien durchgespielt, wie hoch der Anteil der Muslime an der deutschen Bevölkerung im Jahr 2050 sein könnte. In einem mittleren Szenario, in dem es keine nennenswerten Flüchtlingsbewegungen aus Ländern mit überwiegend muslimischen Glauben mehr gibt, sondern nur noch eine »reguläre Migration«, würde der Anteil in Deutschland auf etwa 11 Prozent steigen. Riem Spielhaus, Professorin für Islamwissenschaften am Georg-Eckert-Institut in Braunschweig, hält von solchen Zahlenspielen nicht viel: »So weit in die Zukunft kann niemand vorausblicken«, kritisiert die Forscherin bei mediendienst-integration.de.

Geradezu als »verantwortungslos« bezeichnet Spielhaus die Extremprognose, wonach der Anteil der Muslime bis 2050 auf 20 Prozent steigen könnte. Diese Hochrechnung gehe »von den politischen Voraussetzungen des Jahres 2015 aus und vernachlässigt, welche Veränderungen es in der Flüchtlingspolitik in Deutschland (...) seitdem gegeben hat«.

Doch egal, wie sich die Zahlen in Zukunft entwickelten, über den Alltag sagen sie eh nicht viel aus. Beim Wort »Muslime« ginge »automatisch das Kopfkino« an, so Spielhaus. Damit werde »die Religion dieser Menschen betont, auch dann, wenn sie keine dominante Rolle in ihren Leben spielt«. Deshalb sei es falsch, wenn große Teile der Berichterstattung zur Pew-Prognose mit Fotos von betenden Muslimen oder Frauen mit Kopftuch illustriert würden. Tatsächlich griffen sowohl spiegel.de als auch tagesschau.de und sueddeutsche.de auf solche Motive zurück. Dabei sind laut der Islamwissenschaftlerin die meisten Muslime in Deutschland weder stark religiös, noch trägt eine Mehrheit der Frauen ein Kopftuch.

Eine rassistische Marke bekommt die Prognose durch Interpretationen rechter Blogs. Auf tichyseinblick.de heißt es etwa, angesichts der Zahlen kämen dem namentlich unbekannten Autor »ein paar Fragen in den Sinn, die an der ›Integrationsfähigkeit‹ Deutschlands Zweifel aufkommen« ließen. Er listet dann etwa auf, dass Frauen in Deutschland »nicht mehr sorglos Joggen gehen« könnten.

Nüchtern sieht es Malte Lehming auf tagesspiegel.de: »Der Anteil der Muslime in Deutschland wird steigen. Darüber in apokalyptische Panik zu verfallen, ist unangemessen.«

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Mehr aus: Aus dem Netz gefischt
- Anzeige -
- Anzeige -