Warum fürchtet Erdogan die HDP so sehr?
Yücel Özdemir über den Prozess gegen den linken Politiker Selahattin Demirtaş und die Angst des Staatspräsidenten vor einem zweiten «7. Juni»
Der Herrscher über alles« – der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan – erscheint auf der einen Seite stark und unbesiegbar, aber er weiß, dass er auf der anderen Seite auch schwach und machtlos ist. Er hat Angst, aufgrund der inneren und äußeren politischen Entwicklungen die Kontrolle zu verlieren. Deshalb wird nun unter anderem diskutiert, die für 2019 geplanten Wahlen vorzuziehen. Und so, wie es derzeit läuft, ist alles möglich.
Geht es um Wahlen, dann ist es keine Übertreibung zu sagen, dass Erdoğans größte Angst dem Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş, gilt. Dies zeigt auch das Gerichtsverfahren gegen Demirtaş, das vor einigen Tagen in Ankara begonnen hat. Für Demirtaş, der am 4. November 2016 in Diyarbakır festgenommen wurde und dem seine im Parlament gehaltenen Reden zur Last gelegt werden, werden insgesamt 142 Jahre Haft gefordert.
Yücel Özdemir wurde 1968 in der türkischen Stadt Varto geboren. Er lebt mit seiner Familie in Köln.
Neben seinem Mathematikstudium an der Universität Istanbul war Özdemir verantwortlicher Redakteur der linken Wochenzeitschrift "Gerçek" (Realität), der Vorläuferin der Tageszeitung "Evrensel". Nach der Veröffentlichung eines geheimen Militärprotokolls, in dem es um die Bespitzelung von Kurden, Aleviten und Linken ging, machte ihm die türkische Justiz den Prozess wegen „Landesverrats“. Er flüchtete im August 1993 nach Deutschland. Seit Jahren schreibt Özdemir für "Evrensel" Berichte und Kolumnen aus Deutschland. Er gehört zu den 50 Journalisten, die beim NSU-Prozess einen ständigen Beobachterplatz erhalten haben und teilt seinen Platz mit "neues deutschland".
Das Gerichtsverfahren gegen Demirtaş, der immer noch Ko-Vorsitzender und Abgeordneter der drittgrößten Partei im Parlament ist, begann 399 Tagen nach seiner Verhaftung am Strafgerichtshof von Ankara. Der Angeklagte sitzt im Gefängnis in Edirne an der griechischen Grenze ein, die Entfernung zur Hauptstadt Ankara beträgt 728 Kilometer. Mit dem Auto dauert die Fahrt neun bis zehn Stunden. Diese lange Reise sollte der Angeklagte mit Handschellen zurücklegen. Weil Demirtaş mit Recht die Teilnahme an der Verhandlung über eine Videokonferenz wie auch den Transport in Handschellen ablehnte, fand der erste Prozesstag ohne ihn statt.
Menschen aus der Türkei und vielen anderen Ländern, die nach Ankara reisen wollten, um sich solidarisch zu zeigen, wurden nicht durchgelassen. Außerdem wurde beschlossen, das Verfahren am 14. Februar fortzuführen und den Angeklagten bis dahin in Haft zu belassen. Wahrscheinlich wird Demirtaş auch beim nächsten Termin – aus ähnlichen Gründen – nicht vor Gericht erscheinen. Und solange er nicht vor Gericht erscheint, wird seine Haft verlängert.
In einem normalen Land werden Angeklagte in Gefängnissen in den Städten festgehalten, in denen sie auch vor Gericht stehen. Und solange das Gericht nicht geurteilt hat, gilt die Unschuldsvermutung. Aber da die Türkei kein normales Land ist, wurde sogar das grundlegendste Verteidigungsrecht abgeschafft. Der Angeklagte gilt von Beginn an als schuldig. Für Demirtaş kann es kein »gerechtes Urteil« geben. Emma Sinclair Webb von Human Rights Watch in der Türkei sagte, dass der Fall Demirtaş wie eine »Zusammenfassung« der Zustände in der Türkei sei.
Das Erdoğan-Regime betrachtet Demirtaş nicht als gewöhnlichen Angeklagten. Vielmehr soll bei diesem Verfahren Demirtaş, der kurdischen Bewegung und der demokratischen Opposition in der Türkei ein bedeutender Schlag versetzt werden. Denn eine der wichtigsten Eigenschaften, die Demirtaş von anderen kurdischen Politikern unterscheidet, ist, dass er auch unter Türken beliebt ist. Dies hat er geschafft, indem er eine Politik verfolgt, die auch türkische Bürger anspricht, die ihnen eine Botschaft des Friedens vermittelt und die ihnen hilft, auch die Kurden zu verstehen.
Aus diesem Grund schätzen ihn nicht nur Kurden, Linke und Aleviten, sondern auch Konservative und sogar manche nationalistische Wähler. Demirtaş und die demokratische Opposition der Türkei bereiten deswegen Erdoğan erhebliches Unwohlsein. Und schließlich konnte seine Partei, die AKP, bei den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 zum ersten Mal nach 13 Jahren keine Regierung mit einer absoluten Mehrheit bilden – dank der 13 Prozent, die die HDP bei diesen Wahlen erhielt. Erdoğan wird Demirtaş schon deshalb weiter als Geisel gefangen halten, um einen zweiten »7. Juni« zu verhindern. Darum ist die internationale Unterstützung für die Freiheit von Demirtaş und der anderen inhaftierten Politiker von so großer Bedeutung.
Aus dem Türkischen von Nelli Tügel. Die türkische Langfassung finden Sie hier.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.